Felix Mendelssohn
* Hamburg, 3. Februar 1809
† Leipzig, 4. November 1847
Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell Nr. 2, c-moll, op. 66
komponiert: Frankfurt am Main, Februar bis April 1845
Widmung: Louis Spohr (1784-1859)
Uraufführung: Leipzig, Gewandhaus, 20. Dezember 1845 (Zweite musikalische Abendunterhaltung)
Felix Mendelssohn, Klavier
Ferdinand David (1810-1873), Violine
Carl Wittmann (1810-1860), Violoncello
Erstausgabe: Breitkopf & Härtel, Leipzig, Februar 1846
Seit Mendelssohn sich 1841 von den „brillantesten und vorteilhaftesten Anerbietungen“ des neuen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin hatte locken lassen, sah er sich vor Aufgaben und Belastungen gestellt, die wohl auch eine robustere Gesundheit als die seine unterminiert hätten. Im ehrgeizigen Bemühen, seinen in München regierenden Schwager Ludwig I. zu übertrumpfen und Berlin zu der Kulturmetropole des deutschsprachigen Raumes zu machen, hatte Friedrich Wilhelm IV. mit recht diffusen Versprechungen eine ganze Pleiade großer Namen nach Berlin rufen lassen; um die Durchsetzung seiner hochfliegenden und unausgegorenen Projekte konnte und wollte sich der Monarch freilich nicht kümmern. Schon wenige Wochen nach der Annahme des königlichen Angebots schreibt Mendelssohn ernüchtert über seine neue Wirkungsstätte nach London:
„Dort gehört ein Mann hin, der die Anfangsgründe erst wieder erweckt; der 10 – 15 Jahre lang wieder belebt, was 20 bis 25 Jahre lang totgeschlagen worden ist, systematisch; dann kann sich ein Musiker wieder dort behaglich fühlen, ohne jene Vorarbeit nicht. Die zu unternehmen habe ich weder Lust noch Beruf. Hätte ich das so vorher gewusst, wie ich es in der 3. Woche des vergangenen Monats mit eigenen Augen gesehen habe, so würde ich von vornherein nicht 2 Briefe gewechselt, sondern alles rund von der Hand abgewiesen haben. Da das nicht geschehen war, so ist die kürzeste Zeit, mit der ich abkommen kann, ein Jahr…“
(an Karl Klingemann, 16. Juni 1844)
Nachdem diese „kürzeste Zeit“ verstrichen war, unternahm Mendelssohn auch wirklich einen ernsthaften Versuch, sich von Berlin zu lösen. Doch der König beantwortete die Kündigung Mendelssohns mit einem Dekret, durch das er ihn zum Preußischen Generalmusikdirektor ernannte. Zwar waren von nun an seine Aufgabenbereiche ein wenig genauer umrissen, was Mendelssohn vor allem den Freiraum gab, den er für seine Leipziger Pläne – den Aufbau eines Konservatoriums – brauchte; aber seine Berliner Stellung blieb trotzdem eine ungeliebte Bürde. Erst im Oktober 1844 gelang es ihm, sich aus dieser mißlichen Lage zu befreien. Für die endliche Durchführung dieses diplomatisch schweren Schrittes war wohl auch die Erfahrung ausschlaggebend, die Mendelssohn im Sommer 1844 gemacht hatte: In zwei unbeschwerten Ferienmonaten, die er nach der Rückkehr von seiner siebenten Englandreise in Bad Soden im Taunus verbrachte, erlebte er nach langer Zeit wieder schöpferisches und familiäres Glück. „Das Sodener Leben, Essen und Schlafen ohne Frack, ohne Klavier, ohne Visitenkarten, ohne Wagen und Pferde, aber auf Eseln, mit Feldblumen, mit Notenpapier und Zeichenbuch, mit Cécile und den Kindern,“ im vertrauten Umgang mit den Dichterfreunden Nikolaus Lenau, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Ferdinand Freiligrath – dieses andere Leben bescherte ihm und uns das herrliche Violinkonzert, das Ferdinand David am 13. März 1845 im Leipziger Gewandhaus uraufführen konnte.
Unmittelbar nach diesen glücklichen Sommermonaten hatte Mendelssohn seine Familie in Frankfurt zurückgelassen und war allein nach Berlin gereist, um sich „auf möglichst freundliche Weise aus den dortigen Verhältnissen herauszuwickeln.“ Die dort erreichte weitgehende Entbindung von seinen Verpflichtungen empfand er als großes Glück: „…seitdem ich diese Kabinets-Ordre in Händen habe, ist mir wahrlich, als könnte ich seit langer Zeit zum erstenmal wieder frei und mit gutem Gewissen atmen.“
(an Karl Klingemann, 5. November 1844)
Als Mendelssohn dann Anfang Dezember wieder in Frankfurt eintraf, fand er seinen gerade eineinhalbjährigen Sohn Felix lebensgefährlich erkrankt. Wie durch ein Wunder besserte sich nach einigen bangen Tagen der Zustand, „und bleibt es so, so können wir wieder frei atmen, so erhält uns Gott das Kind, oder vielmehr er schenkt es uns von Neuem! Du kannst Dir denken, welch ein Wiedersehn, welch traurige Tage das waren! Denk Dir also, wie wir Gott jetzt für so viele heitre tröstliche Stunden danken!“
(an Karl Klingemann, 17. Dezember 1844)
Aber auch Mendelssohn selbst war nach den übermenschlichen Anstrengungen der zwischen Berlin, Leipzig und London geteilten Jahre geschwächt. Am 25. Jänner 1845 heißt es am Schluß eines Briefes an den Verleger Julius Kistner: „Ich muß diesen Brief diktieren, weil ich seit 14 Tagen bettlägerig wurde, und jetzt, obwohl ganz in der Besserung, doch noch nicht im Stande bin, die Feder selbst zu führen.“ Drei Wochen später, kurz nach seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, berichtet er Klingemann, daß „die Erkältung oder der Katarrh oder wie man es sonst nennt, doch noch nicht gewichen“ sei. „Ich habe wieder mit Husten und Krächzen eine Woche das Zimmer hüten müssen, und sitze noch darin, und Marie und Paul [die beiden ältesten Kinder, damals sieben und fünf Jahre alt] krächzen ein Trio mit mir…“
Wenn aus diesen Zeilen schon wieder ungebrochener Lebensmut und Optimismus klingt, so hat das wohl vor allem damit zu tun, daß Mendelssohn in der Zwischenzeit doch schon wieder im Stande ist, „die Feder selbst zu führen“ – und daß das Husteterzett mit den Kindern nicht das einzige Trio ist, von dem er seinem Freund berichten kann. Mit der allmählichen Genesung der Familie und dem Nahen des Frühlings wächst das C-moll-Trio heran, das sich über weite Strecken wie eine tönende Chronik dieser Tage anhört. Ganz sicher vermeinen wir die Bilder dieses Briefes an die Schwester in unserem Trio wiederzufinden:
„Wenn Ihr aber keinen Eisgang in Florenz habt, so müßt Ihr uns beneiden, statt umgekehrt; denn das ist ein herrliches Schauspiel, wie das Wesen hier unter der Brücke sprudelt, und springt und stürzt, und die großen Blöcke und Scheiben durcheinanderwirft, und sagt: packt euch, mit euch ist es für´s Erste vorbei! ´s feiert auch seinen Frühlingstag und zeigt, daß es unter der Eisdecke noch Kraft und Jugend behalten hat, und läuft noch einmal so schnell und springt noch einmal so hoch als in den vernünftigen Tagen anderer Jahreszeiten…“
(an Rebecka Dirichlet, 25. März 1845)
Es sind die ins Kämpferische und Hoffnungsvolle gekehrten Bilder der Winterreise, in der ja die von Mendelssohn für sein neues Trio gewählte Grundtonart c-moll auch schon eine wichtige Rolle spielt (Erstarrung, Rast, Der greise Kopf, Die Krähe).
Mitte April ist die Komposition abgeschlossen. An Fanny schreibt Felix am 20. April:„Das Trio ist ein bißchen eklig zu spielen, aber eigentlich schwer ist es doch nicht. Suchet, so werdet Ihr finden!“ Zur Probe aufs Exempel wird Ferdinand David, der gerade auf der Rückreise vom Düsseldorfer Musikfest durch Frankfurt kommt, das neue Opus vorgesetzt. Und dem Jugendfreund Eduard Devrient schreibt Mendelssohn, ganz im Nachklang der Gefühle und Gedanken, denen das Trio sein Leben verdankt:
„…Über die pelzigen Kastanienknospen habe ich bereits wieder sehr viel nachgedacht, aber ich verstehe es doch noch immer nicht ganz: wie so ein Baum wächst. Die Naturgeschichte erklärt es, ebenso gut wie der Generalbaß die Musik. In letzterer bin ich fleißig und habe zum ersten Mal seit langer Zeit das Glück, recht ruhig leben und arbeiten zu können – was das für ein Glück ist, lerne ich jetzt erst recht einsehen; wenn man nicht bloß eine freie Stunde oder dann und wann einen freien Tag, sondern eine ganze Reihe freier Tage zur Arbeit vor sich hat, dann kommt erst das rechte Vergnügen (an der Arbeit sowohl wie an den Tagen) und ich kann an meiner Musik und an Frau und Kindern, und an mir erst dann so rechte Freude haben, wenn die Freude ohne Hetze ist, wie hier jetzt.
So habe ich denn mancherlei Neues gemacht, zuletzt ein Trio für Piano mit Violine und Baß…“
(26. April 1845)
Die in der Chronik dieser Monate anklingenden Leitmotive – Bedrängnis und Rettung, das Erwachen und Leben der Natur, der Kampf der Jahreszeiten, Gebet und Dank – durchziehen als tönend überhöhte Wirklichkeit alle Sätze dieses Meisterwerks.
Es sollte Mendelssohns letztes Kammermusikwerk mit Klavier bleiben – und wer sich von der schulmeisterlichen Besserwisserei der beamteten Musikwissenschaft nicht beeindrucken läßt, wird es gerne als die würdige Krönung dieser Gattung im Mendelssohnschen Œuvre anerkennen. Jener Typ von Analytiker freilich, der meint, seine Einsicht in den Urgrund der Dinge am besten dadurch erweisen zu können, daß er bald gönnerhaft, bald streng Zensuren verteilt, freut sich, an unserem C-moll-Trio einen besonders verlockenden Reibebaum gefunden zu haben. Die Mendelssohnsche Aufforderung: „Suchet, so werdet Ihr finden!“ wird hier auf eine ganz eigene Weise verstanden. Vor allem das Finale hat es diesen strengen Richtern angetan: Da ist bald von einem „formalen Desaster“ (Frieder Reininghaus), bald von „Misere“ und „Fehldisposition“ (Mathias Thomas) die Rede, das Hauptthema sei vollends „abgenutzt“ und überhaupt nicht „finalkräftig“ (derselbe). Auch bei den anderen Sätzen wird nicht mit Kritik gespart, wobei je nach Geschmack und Laune des Schreibers einmal der eine, dann der andere Satz unter dem Niveau der übrigen Sätze sein soll. Ohne sich mit solchen Details aufzuhalten, urteilt der Liverpooler Emeritus Basil Smallman (in einer wohlmeinend sollenden Besprechung der Klaviertrios) lieber gleich pauschal: „Mendelssohn conceived his structures more as fixed patterns than as living forms.“
Die Liste dieser intellektuell verbrämten Zumutungen ließe sich noch lange fortsetzen; doch Beachtung verdient dieses Phänomen eigentlich nur als schmerzlicher Beleg dafür, daß die seit Wagner gepflegte Diffamierung Mendelssohns auch dort Spuren hinterlassen hat, wo man es eigentlich nicht vermuten würde. (Wie verständlich der Wunsch Wagners war, die Spuren zu einer seiner wichtigsten Anleihequellen zu verwischen, soll hier gar nicht erst erörtert werden.)
Mit der Widmung seines zweiten Klaviertrios an Louis Spohr erfüllte Mendelssohn eine Dankesschuld: Spohr, um genau ein Vierteljahrhundert älter als Mendelssohn, hatte diesem 1843 sein einziges bedeutendes Klavierwerk, die Klaviersonate As-Dur op. 125, zugeeignet. Mendelssohn hatte damals geantwortet:
„Wüßte ich´s Ihnen nur ordentlich auszudrücken, wie tief ich´s empfinde, was das sagen will, eins Ihrer Werke auf diese Weise noch ganz besonders sein eigen nennen zu dürfen, und wie mich nicht allein die Auszeichnung sondern eben so sehr Ihr freundliches Erinnern, Ihr fortgesetztes Wohlwollen dabei so ganz von Herzen freut. Haben Sie tausend Dank dafür, lieber Herr Kapellmeister, und was ich von gutem Clavierspielen zusammen bringen kann, um mit meinen jetzt sehr widerhaarigen Fingern die Sonate recht schön herauszubringen, das soll redlich geschehen. Aber das ist wieder nur eine Freude, die ich mir selbst mache, und ich möchte so gern Ihnen eine dafür erwidern!“
Daß Mendelssohns Revanche dann so königlich ausfiel, entsprach ganz seinem Naturell. Spohr hatte noch die Freude, Ende Juni 1846, einige Monate nach der Drucklegung, das ihm gewidmete Werk zusammen mit seinem eigenen ersten Klaviertrio (op. 119) mit Mendelssohn in Leipzig spielen zu können – unter den Zuhörern war damals auch Richard Wagner. Als Mendelssohn anderntags die Spohrs zur Bahn begleitete, war er, als die anderen Begleiter schon Abschied genommen hatten, „noch der Letzte, der bei anfangs langsamem Fortschreiten des Zuges noch eine ganze Strecke neben dem Wagen herlief, bis es nicht mehr anging, und seine freundlich glänzenden Augen waren der letzte Eindruck, den die Reisenden von Leipzig mitnahmen…“
(Louis Spohr, Selbstbiographie)
Der erste Satz (Allegro energico e con fuoco) gehört zu den vollkommensten kammermusikalischen Leistungen der deutschen Romantik: Wie hier, mit Instinkt und Inspiration, aber ebenso sehr mit handwerklicher Meisterschaft und durchdachter Disposition, ein episch vielschichtiges Bild entworfen und ausgeführt wird, das trotz allen Detailreichtums konzis und einheitlich wirkt, kann nur bewundert werden. Ein etwas genauerer Blick auf die Exposition dieses Satzes mag zeigen, wie Mendelssohn diesen Eindruck organischer Einheitlichkeit erzielt. Über einen nur trügerische Sicherheit bietenden Orgelpunkt hastet das rastlos bewegte Hauptthema, das mit seinen flüchtigen Akkordzerlegungen und Skalenfragmenten auf den ersten Blick nur wie die vage Ahnung eines Kommenden wirkt; und doch sind hier schon alle motivischen Hauptelemente nicht nur des ganzen Satzes, sondern des ganzen Werkverlaufs in nuce gegenwärtig. Im melodischen Ductus und der metrischen Gestalt hat dieser Grundgedanke eine mehr als nur generische Verwandtschaft mit der (gleichzeitig mit dem Beginn der Arbeit an Mendelssohns erstem Klaviertrio im März 1839 in Rekordzeit niedergeschriebenen) Ouverture op. 95, die mit dem Kopfsatz unseres Trios auch die Tonart gemeinsam hat. (Wir wissen, daß sich Mendelssohn bei diesem für eine Aufführung von Victor Hugos „Ruy Blas“ komponierten Werk nur von seiner eigenen Phantasie leiten ließ – Hugos Stück fand er „so abscheulich und unter jeder Würde, wie man´s gar nicht glauben kann“…)
Die weitere Entfaltung dieser Hauptidee setzt gleich mit dem Ende der Eröffnungsperiode ein, in deren erweitertem Nachsatz sich der Orgelpunkt schon in eine fallende Baßlinie auflöst. Das Hauptthema wird jetzt gleichzeitig zu einer nervösen Begleitfigur zerstäubt (Verkleinerung im Klavier) und zu einer emblematisch punktierten Melodie gedehnt (paraphrasierende Vergrößerung in den Streichern – dieser melodische Keim läßt sich übrigens auf das posthum veröffentlichte Lied ohne Worte e-moll op. 102 Nr. 1 (MWV U 162) zurückverfolgen). Das so etablierte Modell strandet aber sofort an einer auffallenden Kette von vier unmittelbar aufeinander folgenden Trugschlüssen; die sich daran schließende Wiederaufnahme der ursprünglichen Themengestalt treibt unaufhaltsam auf eine Stromschnelle zu, in der am Ende eines Abspaltungsprozesses das unmerklich veränderte Kopfmotiv mit mitreißendem Ungestüm in das sieghafte Seitenthema mündet. Vor der zwingenden Naturhaftigkeit dieses Vorganges wirkt das Wort „Seitenthema“ freilich recht fehl am Platz: Es ist kein neues Thema – vielmehr eine organische Metamorphose des Hauptsatzes, in dessen Spitzentönen ihre melodischen Umrisse schon verborgen lagen; und Mendelssohn erreicht, indem er die begleitende Klaviertextur beibehält, eine ungebrochene Kontinuität zwischen den beiden Formteilen. Diesem in Es-Dur stehenden Seitensatz, der bei seiner Fortspinnung zunehmend nachdenkliche Züge bekommt, folgt eine Rückkehr zu einer kanonischen Variante der Ausgangsgestalt in der Molldominant (g-moll) und eine erweiterte Wiederholung des allerersten Entwicklungsabschnittes, der – unter beharrlicher Beibehaltung der Molldominante – zu einer recht deutlich an den Kopfsatz des G-moll-Klavierkonzertes (op. 25) anklingenden Schlußformel führt; hier endlich wird der im ersten Verarbeitungsschritt zutage getretene punktierte Rhythmus zum unumstrittenen Hauptprotagonisten. Der bis hierher eroberte Tonraum (c-moll – Es-Dur – g-moll) demonstriert die Stärke der Haupttonart, denn die Nebentonarten können als auskomponierte Tonstufen des C-moll-Dreiklanges gedeutet werden; außerdem antizipiert diese Disposition aber im Kleinen die tonale Dramaturgie des ganzen Werkes (2. Satz – Es-Dur, 3. Satz – g-moll).
Wie wir gesehen haben, bedient sich die Exposition einer ganzen Reihe von Durchführungstechniken. Die Aufgabe der nun folgenden eigentlichen Durchführung ist daher nicht, die Möglichkeiten des motivischen Ausgangsmaterials dynamisch zu entwickeln, sondern vielmehr das schon entfaltete Material wieder zu bündeln, um den Weg zur Reprise freizumachen. Aus dem fragend und klagend wiederholten Nachsatz des „Seitenthemas“, mit dem die Durchführung eröffnet wird, entspinnt sich ein ergreifender Dialog zwischen den Streichern, in dessen Verlauf die Verwandtschaft zwischen „Haupt-“ und „Seitenthema“ gleichsam Generation für Generation zurückverfolgt und offengelegt wird, bis am Ende die wiedergefundene Urgestalt des Hauptsatzes den Eintritt der Reprise markiert, über dem das Klavier ein letztes Bruchstück des Seitenthemas wehmütig festzuhalten versucht. Dieser Moment übt – ganz ähnlich wie die analoge Stelle in der Endfassung des ersten Klaviertrios – in seiner kunstvollen Schlichtheit einen ganz besonderen Zauber aus; und als Folge dieser Verzauberung erscheint der weitere Reprisenverlauf auch merkwürdig verwandelt. Der Abschnitt vor dem Seitensatz ist gegenüber der Exposition um etwa die Hälfte gekürzt, die Bewegung bricht sich immer wieder an kleinräumigen Betonungen. Besonders eklatant ist der Unterschied zur Exposition beim Übergang zum Seitensatz: wo dort sich ein mächtiger Strom ins Meer ergoß, eröffnet sich hier ein unerwarteter Durchblick in die Ferne, aus der man das Cello das jetzt schon vertraute Thema intonieren hört. Von da an überwiegen wieder die Analogien zwischen Exposition und Reprise. Erst die ausgedehnte Coda erweitert das Bild um eine ganz neue und unvergeßliche Perspektive. Die Motorik des Hauptmotivs hält plötzlich lauschend inne, und der ferne pochende Leitrhythmus bleibt alleine hörbar. Durch die verfremdete Landschaft entfernter Tonarten gelangen wir zum Höhepunkt des Satzes: Bei der letzten Wiederkehr des Hauptthemas erklingen Vergrößerung und Originalgestalt gleichzeitig – ein schon zu Beginn des Werkes angedeuteter, aber nicht ausgeführter kontrapunktischer Kunstgriff, der bei Mendelssohn eine Rarität ist. Ein letztes Mal erklingt noch die Frage des in Moll gefangenen Seitenthemas, dann endet der Satz mit einer wildentschlossenen Note trotzigen Mutes.
Mendelssohn zog es vor, einem Satz von so außergewöhnlicher Konzentration und nachhaltiger Wirkung bescheidener dimensionierte und leichter gearbeitete Mittelsätze folgen zu lassen, und die Lösung der im Kopfsatz aufgeworfenen Fragen für das Finale aufzusparen. Daß ihm das gelang, ohne die Stringenz des Ablaufs zu gefährden, beweist seine souveräne Meisterschaft.
Durch die Schaffung tonaler und formaler Analogien zwischen den beiden Mittelsätzen wird der Gefahr des Proportionsverlustes entgegengewirkt; trotz ihrer großen charakterlichen Gegensätzlichkeit stützen und stärken die Sätze einander und entgehen so gemeinsam der Verharmlosung durch die mächtigeren Nachbarn. Beide Sätze sind dreiteilig und tonal nach dem Prinzip des Variantenwechsels (Es-Dur – es-moll – Es-Dur im zweiten, g-moll – G-Dur – g-moll im dritten Satz) gebaut.
Das Andante con moto (Es-Dur) im Neunachteltakt ist ein Lied ohne Worte wie es inniger und schlichter kaum zu denken ist – als Klavierstück würde es sicher einen Ehrenplatz unter den acht Heften der Mendelssohnschen Stücke dieses Titels einnehmen; und daher scheint es legitim sich der Worte zu erinnern, mit denen Schumann das Erscheinen der ersten dieser Kompositionen begrüßte:
„Wer hätte nicht einmal in der Dämmerungsstunde am Klavier gesessen (ein Flügel scheint zu hoftonmäßig) und mitten im Phantasieren sich unbewußt eine leise Melodie dazu gesungen? Kann man nun zufällig die Begleitung mit der Melodie in den Händen allein verbinden, und ist man hauptsächlich ein Mendelssohn, so entstehen daraus die schönsten Lieder ohne Worte.“
Der Dur-Hauptteil hat das naive Parlando eines kindlichen Gebetes, während sich im Minore dunklere und flehentlichere Töne vernehmen lassen, die in der Coda des Maggiore dann zu einem unerwartet heftigen Ausbruch (as-moll) führen. (Die Verschränkung und teilweise Durchdringung der beiden Formteile in der Reprise stellt übrigens eine zusätzliche Parallele zwischen den beiden Mittelsätzen dar.)
Daß Mendelssohn in den Scherzi in seinem ureigensten Element ist, wurde schon allzu oft wiederholt. In diesem Satz (Scherzo. Molto allegro quasi presto, g-moll) kann man aber wirklich, wie ein Kritiker das getan hat, die perfekte „Synthese zwischen Feenzauber und Fugentechnik“ sehen – vorausgesetzt, man nimmt den Begriff „Fugentechnik“ nicht zu wörtlich; denn eigentlich begnügt sich Mendelssohn mit angedeuteten Imitationen, vornehmlich zwischen den Streichern. Der fast schon zu einem Markenzeichen des Komponisten gewordene Topos des Feen- oder Elfenreigens wird von einem Trio alla zingarese (das sicher die zustimmende Anerkennung der Kollegen Haydn und Brahms findet) unterbrochen, ohne daß der Fluß des Satzes dadurch auch nur im geringsten gestört würde. Die Leichtigkeit, mit der Mendelssohn zwischen den beiden Polen dieses Satzes vermittelt, beschert uns in der drastisch verkürzten Reprise dann noch ein besonderes Kunststück: Auch hier usurpiert das vorlaute Maggiore ein Territorium, das von Rechts wegen ganz dem Moll-Hauptteil zustünde – und trotzdem bleibt der nächtlichen Choreographie das eigentlich zu erwartende Chaos erspart.
Mit dem Finale (Allegro appassionato) kehren wir in den Fragenkreis des ersten Satzes zurück. Die ziemlich weitgehende Ähnlichkeit des Kopfmotivs mit dem Scherzo aus Brahms´ dritter Klaviersonate (f-moll, op. 5) wurde wiederholt konstatiert. Wahrscheinlich hätte Brahms diese Feststellung ebenso bärbeißig quittiert, wie den Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen dem Incipit unseres Trios und dem Beginn des Finales seines (in der selben Tonart stehenden) Klavierquartetts op. 60. Allerdings ist es sehr leicht möglich, daß dieser doppelte Anklang doch nicht ganz von ungefähr kommt: die analogen Choral-Enklaven im Schlußsatz des Brahmsschen Quartetts und in unserem Finale könnten ein zusätzliches Indiz für eine besondere Wirkung sein, die Mendelssohns Trio auf den jungen Brahms ausgeübt haben mag. Wie auch immer: die oben kurz berührten Einwände der erlauchten Musikwissenschaft gegen diesen Satz gehen vor allem deswegen ins Leere, weil sie seine Abhängigkeit vom Kopfsatz nur ungenügend in Rechnung stellen. Die formale Eigenwilligkeit des Satzes (durchführungslose Zweiteiligkeit mit Einschub eines Choralthemas mitten in die Reprise des Hauptthemas, nachhaltig betonte Wiederaufnahme dieses „regelwidrigen“ Einschubs in der ausgedehnten Coda) und die hermeneutischen Implikationen, die sie bedingen, sind losgelöst von der Ideen- und Motivwelt des ersten Satzes gar nicht zu verstehen. Der vieldiskutierte Choral steht in direkter Abhängigkeit vom „eigentlichen“ Seitenthema des Satzes, das selbst wiederum nichts anderes als eine sehr verwandelte, aber noch immer als solche erkennbare Wiedergeburt des Seitenthemas aus dem ersten Satz ist. Diese Querbeziehungen sind wohl viel aussagekräftiger als die genaue Zuordnung der Choralmelodie selbst. (Als Quellen für den Choral werden genannt: „Vor Deinen Thron tret´ ich hiemit“, „Herr Gott, Dich loben alle wir“ und „Ihr Knechte Gottes allzugleich“; am nächsten steht wohl Bachs auf einer Genfer Psalmenausgabe von 1551 basierenden Choralsatz „Herr Gott, Dich loben alle wir“, BWV 326. Gegenüber dieser Quelle verändert Mendelssohn das Metrum, tauscht Haupt- gegen Mittelstimmen und bringt einige melodische Modifikationen an.)
Der leidenschaftliche Trotz des Hauptthemas, das von seiner (partiellen) vergrößerten Umkehrung im Baß begleitet wird, strahlt einen kämpferischen Lebenswillen aus, zu dem die „Non confundar in aeternum“-Stimmung des Seitenthemas zwar in Spannung, aber nicht in Widerspruch steht. Daß sich Lebenswillen und Gottvertrauen im Lobgesang vereinen, ist bei einem tief religiösen Menschen wie Mendelssohn ganz sicher keine rhetorische Pose. Die Pose entsteht erst im Angesicht der Masse; aber das „Suchet, so werdet Ihr finden!“ Mendelssohns wendet sich nicht an eine anonyme Masse. Der innere Adel, der Mendelssohn für so unterschiedliche Temperamente wie Louis Spohr und Robert Schumann zur höchsten Autorität machte (Schumann: „Sein Lob galt mir immer das höchste – die höchste letzte Instanz war er.“) und der wohl auch der tiefere Grund für den pathologischen Mendelssohn-Komplex Richard Wagners ist, wurde von einer nachfolgenden Zeit als klassizistische oder historistische Glätte und Unverbindlichkeit gedeutet. Wer die Botschaft dieses Trios zu hören versteht, wird keinen Augenblick mehr daran zweifeln, daß Mendelssohn nicht einfach der Autor eines genialen Violinkonzertes und einer vielseitig verwendbaren Bühnenmusik ist, sondern zu den ganz Großen unserer Musik zählt.
© Claus-Christian Schuster