Franz Schubert
* Wien, 31. Jänner 1797
† Wien, 19. November 1828
Adagio („Notturno“) Es-Dur für Klavier, Violine und Violoncello, op. posth. 148 (D 897)
komponiert: Wien (I., Tuchlauben 14), spätestens im Frühjahr 1828, wahrscheinlich nicht lange davor
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Diabelli, Wien, 1846
Der aus Schuberts Nachlaß 1846 veröffentlichte Einzelsatz, den der Verleger Anton Diabelli (1781-1858) in Anlehnung an den dem Autograph von fremder Hand vorangestellten Titel Notturno als Nocturne mit der Opusnummer 148 erscheinen ließ, entstand höchstwahrscheinlich gleichzeitig mit den beiden „großen“ Klaviertrios und könnte recht gut den ursprünglichen zweiten Satz des Klaviertrios B-Dur op. 99 (D 898) darstellen – eine Vermutung, die schon in der Einreihung des Werkes im Deutsch-Verzeichnis ausgedrückt und durch etliche Indizien gestützt wird. Namentlich die tonale Anlage des Satzes weist einige sehr auffällige Parallelen zu derjenigen des Andante un poco mosso von D 898 auf. Wenn diese Vermutung zutreffen sollte, darf man annehmen, daß es nicht Unzufriedenheit mit dem Stück als solchem, sondern eher Überlegungen dramaturgischer und struktureller Art waren, die Schubert dazu bewogen haben mögen, es durch einen anderen Satz zu ersetzen. In der Tat scheint das vorliegende Adagio den Rahmen eines langsamen Satzes in mehr als einer Hinsicht zu sprengen – wenn man auch festhalten muß, daß solche „Grenzüberschreitungen“ bei Schubert etliche Male vorkommen.
Der großräumige Bogen des Werkes mit seinen traumhaft ineinander verwobenen beiden Gesichtern hat Bezüge zu einem Typus, der auch in der romantischen Lyrik nicht unbekannt ist und etwa als „Berceuse héroïque“ beschrieben werden könnte: bei Lord Byron und Victor Hugo findet er sich ebenso wie etwa bei Adam Mickiewicz. Das gehäufte Auftreten dieses (selbstverständlich auf das Urbild der ahnungsvollen Gottesmutter zurückzuführenden) Topos – die Mutter, die sich an der Wiege des Kindes die ihm bevorstehenden Lebenskämpfe in einer Mischung aus süßem Stolz und bangem Vorauswissen ausmalt – hat natürlich mit der zwischen dem Rückzug ins Private und dem Aufbruch in eine erträumte Freiheit irisierenden Lebenshaltung des Vormärz zu tun. Während bei den genannten Dichtern das Wiegenlied nur die Folie für den Freiheitstraum – also für eine politische Vision – abgibt, findet sich gerade bei einem der „politischsten“ Dichter, die Schuberts Phantasie angeregt haben, eine sehr private Variante der selben Grundidee. Schon am 15. Oktober 1815 hatte Schubert ein Gedicht des zwei Jahre zuvor noch nicht 22jährig gefallenen Theodor Körner vertont, das (wenn man solche Parallelen überhaupt in Betracht ziehen will) dem unausgesprochenen „Programm“ unseres verwaisten Adagios nicht ganz unähnlich ist: Hier wie dort wird die tröstliche Geborgenheit zweimal von Wolken überschattet und stürmisch unterbrochen, und hier wie dort werden dem Wiegenlied drei selige Momente vergönnt – auch wenn Schuberts Schluß, anders als der Körners, nicht „jubelnd himmelwärts“, sondern träumend in die Ferne weist – auch daran mag man ja die Weite des Weges vom Elan des Freiheitskampfes zur biedermeierlichen Weltflucht ermessen. Das Schuberts Lied von 1815 (Wiegenlied, D 804) zugrundeliegende Gedicht lautet:
Schlummre sanft! – Noch an dem Mutterherzen
Fühlst du nicht des Lebens Qual und Lust;
Deine Träume kennen keinen Schmerzen,
Deine Welt ist deiner Mutter Brust.
Ach! wie süß träumt man die frühen Stunden,
Wo man von der Mutterliebe lebt;
Die Erinnerung ist mir verschwunden,
Ahndung bleibt es nur, die mich durchbebt.
Dreimal darf der Mensch so süß erwarmen,
Dreimal ist´s dem Glücklichen erlaubt,
Daß er in der Liebe Götterarmen
An des Lebens höh´re Deutung glaubt.
Liebe gibt ihm ihren ersten Segen,
Und der Säugling blüht in Freud´ und Lust,
Alles lacht dem frischen Blick entgegen;
Liebe hält ihn an der Mutterbrust.
Wenn sich dann der schöne Himmel trübte,
Und es wölkt sich nun des Jünglings Lauf:
Da, zum zweiten Mal, nimmt als Geliebte
Ihn die Lieb´ in ihre Arme auf.
Doch im Sturme bricht der Blütenstengel,
Und im Sturme bricht des Menschen Herz:
Da erscheint die Lieb´ als Todesengel,
Und sie trägt ihn jubelnd himmelwärts.
Neben dieser Variante der „Berceuse héroïque“ hätten natürlich auch Dutzende andere Gestaltungen eines ähnlichen Grundmotivs den Anstoß für Schuberts viele Jahre nach dem Lied entstandenes kammermusikalisches Tongedicht abgeben können. Unbestreitbar dürfte aber sein, daß die Musik berufener und geeigneter ist, solchen Gedanken und Gefühlen zeitlosen Ausdruck zu schenken als das Wort.
Diesen (sicher anfechtbaren) literarischen Echos und Parallelen stehen freilich auch schlichtere, volkstümlichere – aber nicht weniger berührende – gegenüber. In den Erinnerungen von Schuberts Freunden taucht die Vermutung auf, er habe sich in den beiden „heroischen“ Teilen seines Trio-Adagios auch auf ein Volkslied gestützt, das er auf seiner Sommerreise 1825 kennengelernt habe. Das „Lied der Rammpfahlarbeiter“ (Pilotenschlägerlied) aus Gmunden, von dem traditionellerweise behauptet wird, es sei von Schubert hier verwendet worden, konnte allerdings bis jetzt nicht aufgefunden werden. Wenn Schubert, was anzunehmen wäre, mit diesem Vorbild (so es denn wirklich jemals existiert hat) ähnlich frei verfahren ist wie mit dem schwedischen Volkslied, das den langsamen Satz des Es-Dur-Trios op. 100 (D 929) inspiriert hat, wird es allerdings auch recht schwer sein, diese Abstammung nachzuweisen.
Was immer zur Isolierung des Satzes geführt haben mag – die Existenz eines „kleinen“ Schuberttrios aus seiner Reifezeit ist ein Geschenk, für das Interpreten und Zuhörer, nicht nur die ungeduldigen, denen Schubert immer „zu lang“ erscheint, niemals dankbar genug sein können werden.
© Claus-Christian Schuster