Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791
Trio für Klavier, Violine und Violoncello, G-Dur, KV 496
komponiert: Wien (Domgasse 5), beendet am 8. Juli 1786
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Franz Anton Hoffmeister, Wien 1787
Mozarts kammermusikalisches Schaffen tritt um die Jahreswende 1784/85 in eine neue Phase. Die zügige Beendung der „Haydn-Quartette“ ( – die zweite Hälfte dieser Serie, KV 458/KV 464/KV 465, entsteht im Laufe weniger Wochen – ) bezeichnet eine neue Etappe in der Geschichte des Streichquartetts. Mit der Komposition der beiden Klavierquartette (KV 478, KV 493) erschließt Mozart sich ein völlig neues Genre, in dem er die kompositorische Erfahrung der vorangegangenen Jahre (vor allem auf dem Gebiete des Klavierkonzertes und des Streichquartetts) zusammenfassend erweitert; und bald darauf (1787) wird er mit den Streichquintetten (KV 515, KV 516, KV 406) eine weitere Kammermusikgattung auf allerhöchstem Niveau inaugurieren. In diesem letzteren Falle greift Mozart auf eine Form zurück, die ihn schon 1773 (Streichquintett KV 174) beschäftigt hat, der er sich aber nun mit völlig anderen Mitteln nähern kann. Ganz ähnlich ist die Situation bei dem uns hier interessierenden Genre des Klaviertrios: Auch in dieser Gattung hatte Mozart seit einem Jahrzehnt (Divertimento KV 254, August 1776) kein Werk mehr vollendet, und auch hier macht er sich nun mit einem gänzlich neuen Rüstzeug an die Lösung der Aufgabe. Daß diese Aufgabe auch mit den neuerworbenen Mitteln nicht eben einfach zu bewältigen war, zeigt uns nicht nur die Reihe vorangegangener und liegengelassener Versuche (KV 442, KV 495a), sondern auch ein Blick auf das Autograph. Aus dem Nebeneinander von schwarzer und roter Tinte, den ungewöhnlich zahlreichen Veränderungen und Korrekturen, die einen recht komplizierten Arbeitsprozeß widerspiegeln, und schließlich dem ursprünglichen Titel „Sonata“ ergibt sich ein beredtes Bild von der Entstehungsgeschichte des Werkes, das – wie sich aus all diesen Indizien mit einiger Schlüssigkeit vermuten läßt – ebenso wie Mozarts zweites G-Dur-Klaviertrio (KV 564) wohl ursprünglich als Klaviersonate konzipiert worden sein dürfte.
Im Kopfsatz (Allegro) ist diese etappenweise Genese gewissermaßen in eine Abfolge von Klangfarben sublimiert. Das Klaviersolo des Anfangs (Vordersatz einer asymmetrischen Periode) wird schon im Nachsatz in einen ungemein lebendigen Dialog zwischen Geige und Klavier umgestaltet, der in assoziativer Dichte auf die das Seitenthema vorbereitende Wechseldominante zustrebt. Auch im Seitensatz, in dem sich übrigens die dezente Unregelmäßigkeit des Hauptthemas spiegelbildlich wiederholt (gemessen an der „metrischen Norm“ des Sechzehn-Takters hat nämlich der erste Teil des Seitenthemas um genau den einen Takt zuwenig, den der entsprechende Teil des Hauptthemas zuviel hat), bleibt das Violoncello völlig im Hintergrund. Erst in der Durchführung, die ausschließlich das motivische Material der ersten beiden Takte des Werkes verarbeitet, wird diese bisher ausgesparte Farbe ins Spiel gebracht und dem Violoncello eine führende Rolle zugewiesen. Auch hier ist das offenkundigste Gestaltungsprinzip das der Klangfarbenmischung (zunächst Violoncello/Klavier, dann Geige/Klavier). Die Veränderungen der Reprise gegenüber der Exposition sind relativ geringfügig, aber so typisch, daß es wert scheint, sie festzuhalten. Zunächst, und das ist die augenfälligste Veränderung, wird das eröffnende großflächige Klaviersolo durch eine dialogische Gestalt ersetzt. Das erscheint nur logisch, weil man nach der Stimmdurchmischung der Durchführung eine Wiederaufnahme der „isolierten“ Ausgangsform wohl als Rückschritt empfinden würde. Sehr viel spekulativer muten die anderen Veränderungen an: Die oben erwähnte Asymmetrie des Hauptsatzes (17+19 Takte) wird durch einen intensivierenden Eingriff beseitigt, ohne aber die metrische Anomalie fallen zu lassen (der Hauptsatz umfaßt in der Reprise 17+17 Takte). Wer meint, dieser Eingriff sei nur ein (gleichsam zufälliger und folgenloser) Nebeneffekt der gegenüber der Exposition veränderten harmonischen Erfordernisse (Etablierung der Dominante anstelle der Wechseldominante zur Vorbereitung des Seitensatzes), der wird kurz vor Schluß des Satzes eines anderen belehrt: Dort fügt Mozart nämlich die „verlorenen“ zwei Takte wieder ein, in dem er den die Codetta vorbereitenden Trugschluß wiederholt. Der sinnlichen Wirkung dieser letzten, kleinen Veränderung (Verstärkung der Schlußwirkung) entspricht also ein kaum unmittelbar hörend erfahrbares, sondern nur durch Analyse nachvollziehbares „Kalkül“, durch das die äußere Proportion der Formteile harmonisiert wird.
Der zweite Satz (Andante, C-Dur) ist, was die Dichte der motivischen Arbeit und das ungezwungene Raffinement kontrapunktischen Einfallsreichtums betrifft, wahrscheinlich der Höhepunkt in Mozarts Trioschaffen. An keiner anderen Stelle in seinen Klaviertrios sind die kompositorischen Früchte der Arbeit an den „Haydn-Quartetten“ so sicht- und hörbar. Diese Nähe zu den Streichquartetten führt zu einem in der gesamten Trioliteratur recht vereinzelt dastehenden Befund: Auf weite Strecken ließe sich die Faktur dieses Satzes nahezu eingriffslos für Quartett übertragen. Keimzelle des Satzes ist ein den Raum einer Quint (mit Umspielung: einer Sext) durchmessendes Skalenfragment – etwas schlichteres und anspruchsloseres ließe sich wohl kaum mehr finden. Mozart gelingt es, aus diesem Nichts an Material ein unglaubliches Wunderwerk von einander sanft berührenden und umschlingenden Linien zu zaubern. Spielerisch lockert und verdichtet sich dieses Gewebe, bis es in den Schlußtakten zu fünffacher Engführung verknüpft wird – bei aller Einfachheit des Ausgangsmaterials nun doch schon wieder eine Art gordischer Knoten! Gleichsam nebenbei versäumt Mozart nicht, dieses scheinbar frei assoziative Spiel den Formerfordernissen eines Sonatensatzes anzupassen. Durch diese bei Mittelsätzen nicht allzu häufige Form wird der schon in der Motivik präformierte Zusammenhang mit dem ersten Satz noch verstärkt. Dieser Konnex entspricht etwa jenem zwischen dem zweiten und dritten Satz von KV 502, und ähnlich wie dort begegnet Mozart der immanenten Gefahr formaler Monotonie durch die Verwendung zweier sehr unterschiedlicher Spielarten des gleichen Formschemas (radikale Monothematik des zweiten gegen die ausgeprägte Bithematik des ersten Satzes).
Die Finalvariationen (Allegretto) basieren auf einer sehr schlichten und rustikal anmutenden Gavotte, deren einzige „Komplikation“ eine Serie von Quint-Sext- und Sekundakkorden über einem chromatisch fallenden Baß (Anfang der zweiten Themenhälfte) darstellt. Die ersten drei Variationen folgen dem altvertrauten figurierenden Schema. Auffällig ist zunächst nur, daß auf eine Klavier- und eine Geigenvariation wieder eine Klavier- und nicht die erwartete Cellovariation folgt. Mit der vierten Variation löst sich dieses Rätsel, freilich nur, um noch viel schwierigere an seine Stelle zu setzen. Der unvermittelte, rücksichtslose Übergang vom unverbindlich freundlichen Plauderton der vorhergehenden Variation zu dem erschütternden Todesernst dieser Mollvariation hat in der gesamten Musikliteratur kaum eine Parallele. Auch die Klang- und Rollenverteilung zwischen den Instrumenten ist ungewöhnlich. Nach Mozarts ausdrücklicher Anweisung übernimmt das Cello mit seiner Baßlinie die Führung. Diese Baßlinie hat jedoch nichts mehr von der springenden Gutmütigkeit des Tanzbasses, sondern sie bewegt sich, beklommen und beklemmend, in quälenden Intervallen und in monotoner Viertelbewegung dahin, während das Klavier zaghafte und kurzatmige Fragen flüstert, die in der Geige nur von einem matten, sich immer wiederholenden und schließlich kraftlos niedersinkenden Seufzermotiv beantwortet werden. Es nimmt nicht wunder, daß ein so expressives und kompromißloses Tonbild auch den vom Thema vorgegebenen formalen Rahmen sprengen muß. Während die erste Themenhälfte auch in diesem düsteren Licht noch als ein ferner Schatten erahnbar bleibt, ist der zweite Teil des Themas bis zur völligen Unkenntlichkeit verfremdet. Für den stummen Schmerz der ganzen Stelle bezeichnend ist die Tatsache, daß gerade jene andeutungsweise „Komplikation“ im Thema, von der zu Beginn die Rede war, in die Wortlosigkeit verbannt wird: An der entsprechenden Stelle verstummen die ostinaten Streicherstimmen, und das Klavier bleibt mit einer tonlos wiederholten Frage allein zurück. Die hier eingesetzten Ausdrucksmittel und Tongestalten sind in ihrer Summe so erdrückend, das Licht so fahl und erschreckend, daß man sich unwillkürlich in die Menschheitsdämmerung des Expressionsimus versetzt fühlt. Nur der dicke Panzer überkommener Hör- und Spielgewohnheiten könnte uns in der Illusion ungebrochener „Klassizität“ über diese Stelle hinwegtragen. Die Schlußwendung der Variation entläßt uns wie nach schwerem Traum wieder ins heimatliche G-Dur. Aber hier scheint zunächst alles verändert: Die ganze fünfte Variation (Adagio) ist nichts als ein zögerndes und tastendes Wiedererinnern und Wiederfinden. Schließlich wähnen wir uns genesen, und einige kadenzierende Takte führen uns zuversichtlich zur Schlußvariation (Primo tempo). Man meint, wieder festen Tanzboden unter den Füssen gewonnen zu haben, und die alte, naive Gavotte schickt sich an, das letzte Wort zu behalten. Alles gibt sich gelöst und glücklich, da erscheint plötzlich das Gespenst der Mollvariation, mit dem allernotdürftigsten und durchscheinenden Umhang aus Dur bedeckt, wieder. Der Vorgang ist so unerhört und unerwartet, daß man weder die Fassung noch die Zeit findet, ihn in seiner ganzen Tragweite wahrzunehmen, denn schon vertreibt ein gläubiges „Non confundar!“ in einer letzten und äußersten Willensanstrengung (mit einer direkt von Händel herkommenden Geste) den bedrohlichen Schatten. Licht und Hoffnung scheinen den Sieg davongetragen zu haben – und dennoch muß die letzte Frage dieses Satzes unbeantwortet bleiben.
© Claus-Christian Schuster