Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791
Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello (Nr.1), g-moll, KV 478
komponiert: Wien, beendet am 16. Oktober 1785 (I., Domgasse 5/Schulerstraße 8)
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Wien, Hoffmeister, Dezember 1786
Mozarts zwei im Jahr 1785/86 entstandene Klavierquartette sind die ersten bedeutenden Beispiele eines Kammermusikgenres, das zwar immer im Schatten anderer und ungleich reicher mit Meisterwerken bedachter Musizierformen stand, das aber – vielleicht gerade wegen seiner relativen „Ungewöhnlichkeit“ – besonders viele außergewöhnliche Schöpfungen zu verzeichnen hat. Entwicklungsgeschichtlich ist das Klavierquartett ein direkter Abkömmling der barocken „Sonata a tre“ (mit der Normbesetzung 2 Violinen und basso continuo), wobei das ursprünglich den Baß nur stützende Cembalo Hand in Hand mit seiner schrittweisen Ersetzung durch das Hammerklavier allmählich die Führungsrolle übernahm. Tatsächlich findet man im Kammermusikrepertoire der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts weit mehr Klavierquartette in der die unmittelbare Abstammung von der „Sonata a tre“ sogleich zu erkennen gebenden Besetzung von 2 Violinen, Violoncello und Klavier. Die für uns „klassisch“ gewordene Besetzung, in der die zweite Geige durch eine Bratsche ersetzt wird, ist in vielleicht noch höherem Maße, als man das für die Schwestergattungen Klaviertrio und Streichquartett behaupten kann, eine Erfindung der Wiener Klassik. Das älteste bisher bekannt gewordene Stück dieser Besetzung ist ein (unveröffentlichtes) Divertimento des Beethoven-Freundes Emanuel Aloys Förster (1748-1823) aus dem Jahre 1771. Im Druck begegnet uns das Klavierquartett zuerst im „Notturno en Quatuor“ (komponiert 1778 in Mannheim, gedruckt 1781 in Paris) des Abbé Georg Joseph Vogler (1749-1814). Ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Werkes veröffentlichte Johann Baptist Vanhal (1739-1813) in Wien ein Klavierquartett (op. 29 Nr. 3, 1782). Die Entstehung der Mozartschen Klavierquartette erscheint also musikhistorisch durchaus plausibel. Doch es hieße den tieferen Sinn und Wert dieser Werke gründlich verkennen, wollte man in ihnen bloß die Widerspiegelung einer Modeerscheinung sehen. Es scheint vielmehr, daß ihr Erscheinen in Mozarts Oeuvre sozusagen von langer Hand vorbereitet ist: Die ersten Jahre von Mozarts Wiener Lebensjahrzehnt zeigen uns einen tiefgreifenden Entwicklungsschub in zwei grundverschiedenen Genres, mit denen Mozart sich schon in den 1770er Jahren eingehend beschäftigt hatte: dem Klavierkonzert und dem Streichquartett. Zwischen Ende 1782 und Anfang 1785 entstehen (von Einzelsätzen sowie zahlreichen Fragmenten und Entwürfen abgesehen) 11 Klavierkonzerte (KV 413 bis KV 467) und 6 Streichquartette (die „Haydn-Quartette“), in denen diese beiden Genres auf eine neue Entwicklungsstufe gehoben werden. Das Klavierquartett bietet nun Mozart die Möglichkeit, die Errungenschaften aus diesen beiden gegensätzlichen Entwicklungslinien in Eines zu verschmelzen: der symphonische Dialog und die brillante Gestik des Klavierkonzertes verbinden sich hier mit der gesammelten Innigkeit und dem subtilen Raffinement des Streichquartetts. Diese auf den ersten Blick unmöglich erscheinende Synthese macht den Zauber und die Eigenart dieser Werke aus; es ist damit gleichzeitig aber auch ein Punkt erreicht, wo Mozarts Kunst Geschmack und Aufnahmsfähigkeit seiner Zeit nicht mehr in Rechnung stellt. Mozart hatte offenbar mit seinem Logenbruder, dem Komponisten Franz Anton Hoffmeister (1754-1812) vertraglich vereinbart, für dessen 1784 gegründeten Verlag eine Serie von (den damaligen Usancen entsprechend wahrscheinlich drei oder sechs) Klavierquartetten zu schreiben. Als sich das erste dieser Werke, unser g-moll-Quartett, das unmittelbar nach seiner Fertigstellung in Druck ging, als für das Publikum zu anspruchsvoll und schwierig erwies, scheint Mozart seinen Freund von der Verpflichtung zur Übernahme der Quartette entbunden zu haben. Das zu diesem Zeitpunkt offenbar schon fertiggestellte zweite Quartett (Es-Dur, KV 493) ließ er dann erst 1787 bei Artaria erscheinen; die anderen Werke der geplanten Reihe wurden nie in Angriff genommen. Auf dem Postwagen, der Mozarts neue Werke von Wien nach Salzburg bringt, sind wie zur sinnfälligen Illustration der inneren Zusammenhänge These, Antithese und Synthese – Streichquartett, Klavierkonzert und Klavierquartett – friedlich vereint:
„…gestern brachte endlich der Austräger ein wohlverwahrtes Päckl vom Postwagen mit den 6 Quartetten, und 3 Sparten. näm: ein Quartett mit dem Clavier, Violino, Viola und Violoncello obligato. Dann die 2 grossen neuen Clavier Concerte. Das Clavier quartetto ist erst vom 16ten october dieses jahr, und liegen schon das Violin und Viola, weils bereits gestochen sind, im Abdruck dabey.“
schreibt Leopold Mozart am 2. Dezember 1785 an seine Tochter nach St. Gilgen. Über den Genuß, den ihm diese Werke verschafft haben müssen, erfährt Nannerl nichts, weil dieser Brief ebenso wie die folgenden ansonsten fast ausschließlich die Gesundheit von Nannerls Sohn Leopold, der sich in diesen Monaten beim Großvater befand und nach dessen amüsiertem Urteil (wegen eines Hautausschlags) „einem Saufbruder ähnlich“ sah, und verschiedenen pikanten Tratsch zum Gegenstand hat. Daß aber Vater Mozart fürwahr allen Grund hatte, auf das neueste Werk seines Sohnes stolz zu sein, können wir leicht nachvollziehen. Das Unisono-Incipit des Kopfsatzes (Allegro, g-moll, C – und nicht, wie der „gesunde Musikverstand“ oft vorauszusetzen scheint, alla breve!) ist von so lakonischer Kraft und Prägnanz, daß es – stünde es nicht in so raffiniert kammermusikalischem, sondern in publikumswirksamerem, symphonischem Kontext – gute Chancen hätte, mit anderen emblematischen Incipits der Klassik (etwa mit jenem ominösen von Beethovens V. Symphonie) erfolgreich zu konkurrieren: Und in der Tat wird sich einer der würdigsten Nachfolger Mozarts, Antonín Dvořák, bei seinen allerersten Schritten auf dem Gebiet der Kammermusik gerade an diese monumental-lapidare, wahrhaft klassische „Eröffnung“ erinnern und sie zur idée fixe des Finales seines Opus 1 (Streichquintett a-moll, B 7, 1862) machen. Mit dem charakteristischen Dialog zwischen Tutti und Solo findet man sich sofort mitten in der Dramatik eines Konzertsatzes. Unter Mozarts Klavierkonzerten stehen nur zwei in Moll (KV 466, d-moll, und KV 491, c-moll), und beide sind in unmittelbarer Nachbarschaft der Klavierquartette entstanden. In den Kopfsätzen dieser beiden Konzerte ist der für das Genre typische dialogische Konflikt zwischen Soloinstrument und Orchester gleichsam hinausgezögert – das Klavier kommt jeweils erst am Ende einer deutlich symphonische Züge tragenden Orchesterexposition zu Wort. Verglichen damit präsentiert sich unser Klavierquartett mit seiner zeitlich gerafften Abfolge von Rede und Gegenrede also sogar „konzertanter“ als die Konzerte. Bemerkenswert ist, daß die Solopartien aller drei zitierten Moll-Werke mit dem gleichen expressiven Oktavruf auf der Dominante beginnen, dem jedes Mal eine resignativ fallende Geste folgt. Ganz der Stilwelt der Streichquartette entstammt die kontrapunktische Klarheit, mit der das Motto die weitere Entwicklung trägt und prägt. Der von der thematischen Keimzelle des Mottos ausgehende düster beharrende Grundton des Satzes wird nur wenige Male spielerisch aufgelockert, niemals ganz aufgegeben. In den allerletzten Takten tritt dann der recitativische Ursprung dieses Hauptmotivs ganz klar zutage: der Satz endet mit einer Unisono-These, deren Ernst und Strenge nicht nur keinen Widerspruch zu dulden, sondern auch keine Weiterentwicklung zuzulassen scheint. Um so erstaunlicher und beglückender ist, wie im folgenden Andante (B-Dur, 3/8) das Eis Takt für Takt dahinschmilzt – die rhythmische Monomanie des Kopfsatzes löst sich auf die einfachste Weise der Welt, und man vermeint, das unschuldige und ahnungsvolle Plätschern eines Frühlingsbaches zu hören, an dessen endlich befreiten Ufern sich dann im abschließenden Rondeau (G-Dur, C) aller lang aufgestaute kindliche Übermut ausleben darf. Das fast erdrückende, bedrohliche Übergewicht des Kopfsatzes in der Gesamtarchitektur des Werkes ist ganz sicher gewollt und für die Dramaturgie des Werkes entscheidend; die gängige Interpretenausflucht vor diesem vermeintlichen Problem (nämlich, wie es eine ebenso üble wie unausrottbare „Spieltradition“ diktiert, den ersten Satz „quasi alla breve“ zu spielen und die Wiederholung von Durchführung und Reprise geflissentlich zu „überspringen“) greift auf jeden Fall viel zu kurz – ein Musterbeispiel dafür, daß Treue gegenüber dem Buchstaben eines Werkes sehr wohl auch etwas mit der Treue gegenüber dem innewohnenden Geist zu tun hat.