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Fortsetzung im Elysium: Das Ebert-Trio

Das Ebert-Trio hat 65 Jahre nach seinem Brahms-Saal-Début eine neue Heimstatt gefunden

Im Abstand von nur wenigen Stunden haben uns am späten Abend des 31. August und am Morgen des 1. September 2013 nacheinander Wolfgang und Georg Ebert verlassen; Schwester Lotte ist ihnen am Leopolditag nachgefolgt – und damit wurde, von den Medien kaum beachtet, ein Kapitel österreichischer Kammermusikgeschichte geschlossen. Der ensemblistisch einmütige Tod der Geschwister paßt perfekt und emblematisch zu einem der Kammermusik geweihten Leben, auf das zurückzublicken sich durchaus lohnt.

Vater Ludwig (1894-1956) war ein Sohn Emil Eberts, der 1884 in Würzburg die (bis heute bestehende) pharmazeutische Großhandlung Ebert+Jacobi gegründet hatte. Nach dem frühen Tod der Eltern war er in der Obhut seiner drei älteren Schwestern aufgewachsen; sein durch den Krieg und die nachfolgende französische Kriegsgefangenschaft unterbrochenes Chemiestudium hatte er, ohne darüber seine geliebte Geige zu vernachlässigen, 1920 wieder aufgenommen und 1923, im Jahr seiner Promotion, die einer Frankfurter Kaffeegrossistenfamilie entstammende Tilly Stock (1897-1970) geheiratet, die auf bestem Wege war, eine respektable Pianistin zu werden.

Der Lebensweg der jungen Familie folgte von nun an Ludwigs akademischer Laufbahn: ein Rockefeller-Stipendium ermöglichte ihm nach Abschluß seiner regulären Studien in Würzburg einen Studienaufenthalt bei Niels Bjerrum in Kopenhagen, wo 1924 der erste Sohn, Wolfgang, zur Welt kam; danach führten ihn ein Folgestipendium und sein Interesse für die Kryochemie zu Willem Hendrik Keesom nach Leiden – hier wurde dem Ehepaar 1926 die einzige Tochter, Käthe Lotte, geboren. Und schließlich konnte er sich bei Nobelpreisträger Fritz Haber in Berlin habilitieren, wo 1928 die Zwillinge Georg und Klaus die Familie vervollständigten. Der Berlinaufenthalt war für die junge Mutter besonders genußreich: Hier konnte sie nämlich ihre Klavierstudien bei Siegfried Ochs fortsetzen und beenden.

So wuchsen die vier Kinder in einem musikdurchtränkten Umfeld auf. Schon in Würzburg, wohin der Vater bald nach der Geburt der Zwillinge als außerordentlicher Universitätsprofessor berufen worden war, und ab 1934 in Karlsruhe, wo er die Stelle des im Jahr davor aus „rassischen“ Gründen pensionierten Georg Bredig als Odinarius des traditionsreichen Instituts für physikalische Chemie annahm, widerhallte das großbürgerliche Haus Ebert vom Üben der Kinder und der emsig betriebenen Hausmusik der Eltern. Daß sich Wolfgang als der älteste dem Cello widmete, eröffnete dem häuslichen Musizieren schon bald das Wunderreich des Klaviertrios. Lotte schwankte kurz zwischen den Instrumenten der Eltern, bevor sie sich endgültig für die Geige entschied; daneben pflegte sie ihr außergewöhnliches bildnerisches Talent, indem sie das Familienleben mit reizenden Scherenschnitten dokumentierte, die bis heute ein sorgfältig gehüteter Schatz des Familienarchivs sind. Von den Zwillingen, die sich zunächst mit der Blockflöte begnügten – noch Lottes Scherenschnitt von 1941 illustriert dieses Frühstadium des Ebertschen Kinderquartetts –, wandte sich Georg schon bald der Klarinette, und Klaus, dem älteren Bruder nachstrebend, dem Cello zu.

Alle diese musikalischen Ambitionen wurden durch die 1940 erfolgte Übersiedlung nach Wien entscheidend gefördert: Hierher hatte man Ludwig Ebert nach einem kurzen Intermezzo in Greifswald berufen, ohne daß er die Früchte seiner bis heute anerkannten Aufbau- und Organisationsarbeit in Karlsruhe ernten hätte können. Daß er dem Ruf nach Wien trotzdem ohne zu zögern folgte, hatte sicher auch mit der Aussicht auf die bestmögliche Förderung der musikalischen Talente der Kinder zu tun.

Ein standesgemäßes Domizil findet sich in der nach dem Physiker Andreas von Ettingshausen benannten Döblinger Gasse – schon das ein gutes Omen. Das Konzert-, Opern- und Theaterleben der Stadt bietet Eltern und Kindern reichlich Anregung. In der von Gottfried Preinfalk geleiteten Wiener Rundfunk-Spielschar („HJ-RS 15“), die an den Dienstagabenden jeweils Direktübertragungen zu bestreiten hat, sammeln alle vier Geschwister erste Orchestererfahrungen; der Verpflichtung zu allen anderen „Pimpfen-“ und „HJ-“ oder „BDM-“Aktivitäten weicht man hingegen unter Hinweis auf die vorrangigen musikalischen Studien geschickt aus – ihre kritische Haltung gegenüber dem Regime hat Mutter Tilly schon zuvor mit der ostentativen Zurückweisung des ominösen „Mutterkreuzes“ demonstriert. Obwohl Georg als Schüler der Klarinettenlegende Leopold Wlach so begabt ist, daß sogar das jüngere Wunderkind Alfred Prinz in ihm einen ernsthaften Konkurrenten zu sehen vermeint, findet er bald im Klavier seine eigentliche Berufung. Gleich nach Abschluß seiner Pflichtschulzeit bricht er das Gymnasium ab, um sich ganz der Musik widmen zu können (daß er so nebenbei auch dem verhaßten Dienst als „Flakhelfer“ entgeht, ist ein nicht unerwünschter Nebeneffekt dieser Entscheidung); Josef Dichler wird sein Klavierlehrer. Seine Geschwister bleiben der Schule in der Gymnasiumstraße treu. Wolfgang, der in Richard Krotschak einen herausragenden Pädagogen gefunden hat, muß 1943 ins Feld, während Lotte ihr Geigenstudium bei dem erfahrenen Quartettisten Ernst Morawec fortsetzen kann. Klaus entscheidet sich trotz der Fortschritte, die er als Cellist in den Klassen von Krotschak (dessen Frau Grete ihm zur „zweiten Mutter“ wird) und Wilhelm Winkler macht, zwar schließlich für die Wissenschaft, komplettiert aber während der kriegsbedingten Abwesenheit des großen Bruders das Haustrio.

Als Wolfgang am 13. Mai 1945, dem 19. Geburtstag seiner Schwester, aus dem Krieg heimkehrt, liegt das Wiener Elternhaus schon seit zwei Monaten in Schutt und Asche. Zunächst findet man in Strobl am Wolfgangsee eine provisorische Unterkunft – und im Salzkammergut fühlt sich die Familie so wohl, daß man im folgenden Jahrzehnt immer wieder auf Sommerfrische hierher zurückkommt: Die Pension Praunfalk in Bad Aussee bietet lange Zeit hindurch einen idealen Zweitwohnsitz, an dem man fast ein Drittel des Jahres zu verbringen pflegt, und die Liebe zu dieser Landschaft wird sich noch viele Jahrzehnte später in Wolfgangs akribischer musikgeschichtlicher Lokalstudie „Brahms in Aussee“ (1997) niederschlagen. Bad Aussee ist auch der Schauplatz erster Wettbewerbserfolge der jungen Musiker, die inzwischen viele wertvolle Erfahrungen sammeln konnten: Georg bei Meisterkursen von Friedrich Wührer und Edwin Fischer, Lotte im Unterricht von Vaša Přihoda, Ricardo Odnoposoff und Wolfgang Schneiderhan, und Wolfgang bei Enrico Mainardi. Hier, in Bad Aussee, schlägt auch die Geburtsstunde des Ebert-Trios: Am 23. Juli 1948 treten Georg, Lotte und Wolfgang mit Mozarts letztem Klaviertrio (G-Dur, KV 564) hier ein erstes Mal öffentlich auf. Haydns unverwüstliches „Zigeuner-Trio“ und Schuberts Opus 99 sind die nächsten Werke im Repertoire des jungen Trios, über das Wolfgang von Anfang an penibel Buch führt. Im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins findet dann am 21. März 1949 das „offizielle“ Début des Ensembles statt.

So stürmisch entwickelt sich die Karriere des Trios, daß Wolfgang ohne langes Bedenken seine Stelle als Cellist des Niederösterreichischen Tonkünstlerorchesters aufgibt, um sich ganz der neuen Aufgabe zu widmen. Bis zum feierlichen Abschiedskonzert, mit dem das Ebert-Trio am 15. Mai 1990 seine 42jährige Tätigkeit beendet, wird Wolfgang nicht weniger als 1546 Konzertauftritte in seiner Chronik verzeichnen können, fast die Hälfte davon in Deutschland, etwa ein Fünftel in Österreich (wo die Auftritte im Brahms-Saal ein Fixpunkt bleiben) und der Rest verteilt auf Italien und ein Dutzend weiterer Länder. Seit dem Jänner 1952 spielt man etwa die Hälfte des – zuletzt an die hundert Werke, darunter 15 zumeist dem Ensemble gewidmete Trios lebender österreichischer Komponisten umfassenden – Repertoires auswendig, auch darin wie in der sorgfältigen Dokumentation des eigenen Wirkens dem legendären Trio di Trieste nacheifernd. 1957-1960 ist mit jeweils rund 100 Konzerten pro Jahr der Zenit der Tätigkeit erreicht; aber erst nach 1974 – Georg ist inzwischen als Professor an die Wiener Musikhochschule berufen worden – reduziert man die Anzahl der Auftritte drastisch, um sich zwischen 1979 und 1985 überhaupt eine siebenjährige „Sabbat-Ruhe“ zu gönnen, bevor sich das Ensemble in den seltenen Auftritten der allerletzten Triojahre bis 1990, von einem Berliner Abschiedskonzert im Oktober 1989 abgesehen, im wesentlichen auf Wien beschränkt.

In der österreichischen Triogeschichte nimmt das Ebert-Trio eine Pionierstellung ein: Ein Jahrzehnt vor dem fulminanten, aber kurzlebigen „Jungen Wiener Trio“ (Buchbinder/Guth/Litschauer) und lange vor dem Haydn-Trio hat das Ensemble bewiesen, daß das Triospiel eine lohnende Lebensaufgabe sein kann.

Ob sich ihm jetzt, an anderem Ort, ein neues Wirkungsfeld eröffnet?

Gleichviel: Wir, die wir als Musiker und Zuhörer die Nutznießer ihrer mutigen Entscheidung sind und bleiben, schulden ihnen Dank.

Brodmann, Bösendorfer und die Last der Geschichte

Gegen Jahresende 2007 rückten die Turbulenzen rund um den Verkauf der Traditionsfirma Bösendorfer neben dem Namen des neuen Eigentümers Yamaha auch einen anderen Namen wieder ins Licht der Öffentlichkeit, der uns an die Wurzeln dieses für den Ruf des Wiener Klavierbaus so bestimmenden Unternehmens zurückführt: Joseph Brodmann. Unter diesem Namen hatte sich nämlich 2005 ein Betrieb etabliert, der sich um die Übernahme der Firma Bösendorfer bemühte und auf eine zumindest ideelle Verbindung mit dem legendären Lehrer Ignaz Bösendorfers großen Wert legte, in dem (nun sagen wir: nicht restlos durchsichtigen) Verkaufsverfahren aber schließlich dem japanischen Großunternehmen unterliegen mußte, das immerhin auch schon auf eine mehr als hundertjährige Erfahrung im Klavierbau verweisen durfte. Diese für die ambitionierten Klavierbauer der jungen Firma mit dem klangvollen alten Namen schmerzliche Niederlage war der erste Schicksalsschlag, dem in den folgenden Jahren noch etliche weitere folgen sollten, so daß die Nachricht vom Konkurs des Unternehmens im Mai 2014, also nicht einmal zehn Jahre nach seiner Gründung, nicht völlig überraschend kam.

Freilich war der Bezug der Firmengründer auf Joseph Brodmann ein etwas abstrakter, und es lag ihm keine wirkliche Verbindung zu dem berühmten Pionier des Klavierbaus zugrunde. So war etwa noch mehrere Jahre nach der Firmengründung auf der Website des Unternehmens zu lesen: „Josef Brodmann wurde 1763 im preußischen Eichswald (im heutigen Deutschland) geboren“, eine (später anerkennenswerter Weise korrigierte) Fehlinformation, die recht typisch für die im Internetzeitalter überhandnehmende Unart des unkritischen Abschreibens ist. Denn was die Jungunternehmer da über den Namenspatron ihrer Firma schrieben, konnte man auch schon 2002 im „Oesterreichischen Musiklexikon“ (immerhin mit Fragezeichen, aber nur bezüglich der gerade zutreffenden Jahreszahl) lesen.

Nun wäre es allerdings unbillig, von dem in der Österreichischen Akademie der Wissenschaft angesiedelten Redaktionskollegium dieses nationalen Nachschlagwerkes zu verlangen, alle aufgenommenen Informationen auch gleich auf ihre Richtigkeit zu überprüfen – vor allem wenn man bedenkt, welche Mühe es machen muß, möglichst keinen kommerziell erfolgreichen Schlagersänger zu übersehen, der sich dann darüber beschweren könnte (zum Glück kann man sich aber zum Ausgleich für diese Anstrengung einige großzügige Auslassungen bei verstorbenen Musikern leisten). Doch in diesem konkreten Falle wäre es recht leicht gewesen, sowohl die Quelle der Fehlinformation als auch den tatsächlichen Geburtsort einer für die Geschichte des Wiener Instrumentenbaus zentralen Persönlichkeit zu eruieren. Der Irrtum geht auf einen ganz banalen Flüchtigkeitsfehler im 1966 herausgegebenen Katalog der Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums (I. Teil: Saitenklaviere) zurück, wo ein zerstreuter Redakteur aus „Eichsfeld“ kurzerhand „Eichswald“ gemacht hat. „Preußen“ wurde dann einfach hinzugedichtet – denn Preußen ist, oder vielmehr: war groß, und wer will es denn schon so genau wissen?

Sicher: kein weltbewegender Irrtum, nur eine kleine Flüchtigkeit. Aber könnte es nicht sein, daß eben jene, Tradition und Geschichte zwar ständig und vollmundig beschwörende, aber keine Geduld für das Détail und keine Zeit für den Rückblick in die Geschichte aufbringende Haltung auch für den unbestreitbaren (und wohl irreversiblen) Niedergang des Wiener Klavierbaus mitverantwortlich ist?

Im Eichsfeld, am Nordwestrand Thüringens und ziemlich genau in der Mitte des heutigen Bundesgebietes, liegt die kleine Gemeinde Deuna. Knapp über tausend Einwohner, Tendenz fallend. Die katholische Kirche St. Peter und Paul in der Sandgasse 3, Filialkirche von St. Marien in der Nachbargemeinde Niederorschel, eine kleine katholische Enklave inmitten fast rein protestantischen Territoriums, wird von Pfarrer Vinzenz Hoppe betreut. Hochwürden Hoppe ist freundlich und geduldig. Es dauert einige Zeit, bis er in einem der ältesten Bände des Taufregisters fündig wird: Band 20 verzeichnet auf Seite 192 die am 4. September 1763 erfolgte Taufe von Joseph Brodmann; die Eltern sind der Tischlermeister Johann Brodmann und dessen Frau Maria Elisabeth, geb. Schwert.

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Joseph Brodmann erlernt das Handwerk seines Vaters und geht anschließend auf Wanderschaft, die ihn 1783 nach Wien führt. Hier tritt er als Geselle bei dem jungen Orgel- und Klavierbauer Ferdinand Hofmann (1756?-1829) ein, der bald zu einem der erfolgreichsten Vertreter seines Gewerbes werden sollte und gegen Ende des Jahrhunderts mit seinen acht Mitarbeitern eine Jahresproduktion von über 50 Instrumenten erreicht ( – Hofmann hat man, wohl aus Angst, auch seinen Geburtsort nicht eruieren zu können, vor allem aber, um Platz für die allseits ersehnte Biographie des DJ Ötzi zu schaffen, in das „Oesterreichische Musiklexikon“ erst gar nicht aufgenommen). Am 14. Oktober 1796 – wenige Monate nach der Geburt seines späteren Schülers Ignaz Bösendorfer – leistet Brodmann den Bürgereid und eröffnet anschließend eine eigene Klavierwerkstatt in der Vorstadt Landstraße (Gemeingasse, heute Salmgasse), die er 1803 in die Josephstadt (Am Glacis 43, heute Lenaugasse 10) verlegt. Er gilt schon bald als einer der führenden Vertreter seines Faches und fungiert 1812 als Zweiter, 1813/14 als Erster Vorsteher des Gewerbes. 1813 tritt auch sein späterer Nachfolger Ignaz Bösendorfer (* Wien, 27. Juli 1796, wie Brodmann selbst Sohn eines Tischlers) als Lehrling bei ihm ein, dem er dann in Schuberts Todesjahr 1828 den Betrieb übergibt. Brodmann kann den weiteren Aufstieg seines Meisterschülers noch mitverfolgen – er stirbt erst am 13. Mai 1848, hochangesehen und unter Hinterlassung des beachtlichen Vermögens von 125.000 Gulden.

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Ignaz Bösendorfer bildete sich auf ausgedehnten Auslandsreisen weiter und durfte ab 1836 den Titel „K. k. Hof-Klavierverfertiger“ führen. Bei den Industrieausstellungen der Jahre 1839 und 1845 errang er Goldmedaillen; bei letzterer hatte er, wie auch seine Hauptkonkurrenten Seuffert, Schweighofer und Streicher, zwei Konzertflügel westeuropäischer Bauart ausgestellt: einen mit englischer Mechanik und einen mit Doppelrepetitionsmechanik nach dem französischen Vorbild von Erard. Doch zunächst verfolgte nur Streicher diesen Weg konsequent in die Serienproduktion weiter; erst nach Ignaz´ Tod (14. April 1859) wandte man sich unter der Firmenleitung von dessen älterem Sohn Ludwig Bösendorfer (* Wien, 10. April 1835) der serienmäßigen Produktion von Konzertflügeln mit englischer Mechanik zu, wobei nebeneinander ein geradsaitiges und ein kreuzsaitiges Modell angeboten wurde.

(Eines seiner Instrumente aus dem Jahre 1874, das 2007 im Klavieratelier Gert Hecher gründlich instandgesetzt worden war, konnte das Altenberg Trio Wien ab 2008 in einigen seiner Konzerte im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins dem Publikum vorstellen. Es repräsentiert die ausgereifte Variante des kreuzsaitigen Modells 10, noch mit dem (nur wenige Jahre später in der Produktion durch einen Gußeisenrahmen ersetzten) verschraubten Schmiedeeisenrahmen. Es ist 260 cm lang und in Palisander furniert. Die Gußeisenrahmenvariante dieses Modells wurde noch bis um 1890 hergestellt; danach verlegte sich die Firma auf die Entwicklung grundlegend anderer Typen.)

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Unter Ludwig Bösendorfer stand die Firma, nicht zuletzt dank einer klug und umsichtig betriebenen Öffentlichkeitsarbeit, im Zenith ihres Ansehens. Schon im Jahr nach dem Tode seines Vaters eröffnete er die neue Produktionsstätte auf dem Alsergrund (Türkenstraße 9), der auch ein Konzertsaal angeschlossen war. 1862 begann in London die Reihe seiner Triumphe auf den Weltausstellungen (1873 Wien, 1900 Paris). 1870 eröffnete er die neue Fabrik auf der Wieden (Graf-Starhemberg-Gasse 14) und verlegte gleichzeitig das Verkaufslokal in das Liechtensteinsche Palais in die Herrengasse 6. Der dort 1872 in der umgebauten Liechtensteinschen Reitschule eröffnete Bösendorfer-Saal, der den Vorgängersaal in der Türkenstraße ablöste, war in den vier Jahrzehnten seines Bestehens Wiens erste Adresse für Kammermusik und der beste Werbeträger für den inzwischen international hochgeachteten Firmennamen. Bösendorfer wurde in diesen Jahren Hoflieferant nahezu aller regierenden Häuser. Auch dem äußeren Erscheinungsbild seiner Flügel schenkte Ludwig Bösendorfer besondere Aufmerksamkeit: Theophil Hansen, Hans Makart und Josef Hoffmann entwarfen luxuriöse Sondermodelle. 1909 verkaufte der kinderlose Ludwig Bösendorfer den Betrieb an den musikliebenden (und selbst als Komponist, Pianist und Cellist dilettierenden) Bankier Carl Hutterstrasser (1863-1942), nebenbei einen Pionier des Radrenn- und Skisports in Österreich. Als der Bösendorfer-Saal 1913 demoliert wurde, übersiedelte das Verkaufslokal der Firma in das Musikvereinsgebäude, wo es sich, trotz vielfachen Wechsels der Firmeneigentümer, bis heute befindet. Ludwig Bösendorfer starb zehn Jahre nach dem Verkauf des Betriebs am 9. Mai 1919 in Wien.

Der Last ihrer glanzvollen Geschichte konnten die Namen Brodmann und Bösendorfer nicht standhalten – aber ein Echo des mit ihnen verbundenen Klanges wird vielleicht in jenen raren Instrumenten bewahrt, die uns aus der Blütezeit des Wiener Klavierbaus erhalten blieben und heute wieder spielbar sind.

Die Internationale Paul-Juon-Gesellschaft

Grußwort bei der Übernahme der Präsidentschaft der IPJG
in der Nachfolge von Thomas Badrutt (1934-1999)
Chur, 18. Juni 2000

Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Juonianer!

Etwas mehr als nur eine Ahnung von den Streit- und Kampfgewohnheiten des Menschengeschlechts hat sich schon immer auch dem idealen Reich der Tonkunst mitgeteilt: Da wurden Komponistenköpfe zu Trophäen, Akkorde zu Parolen, Konzertsäle zu Schlachtfeldern, und der Kampf zwischen Gluckisten und Piccinnisten, zwischen Wagnerianern und Brahmsianern wurde nicht immer nur mit Worten ausgetragen – auch wenn die letzteren sich viel lieber als „Brahminen“ gegeben und gerne stoisch geblieben wären. Der von Schumann hochgeschätzte Schubert-Freund Franz Lachner, der einmal mit inquisitorischer Insistenz gefragt wurde, ob er denn auch „Wagnerianer“ sei, antwortete mürrisch: „I bin selber aner!“ – ein Dictum, das ihm die Nachwelt allzu leichtfertig als unfreiwilliges Eingeständnis seiner Unfähigkeit, musikhistorische Zusammenhänge und Proportionen zu erkennen, ausgelegt hat. Denn jeder wahrhaft schöpferische Geist ist doch zunächst und vor allem einmal „selber aner“, und man hat es den Bergen noch nie als Epigonentum ausgelegt, wenn einer weniger hoch oder leichter zugänglich als andere ist.

Da sich nun aber die Zwänge der sozialen Hackordnung bei der Species Homo sapiens, anders als bei den Tieren, nicht auf die Rituale der Paarung und der Revieraufteilung beschränken, muß sich eben auch die Musikgeschichte immer wieder mit den leidigen Fragen nach Größe, Bedeutung und Rang von Komponisten beschäftigen. Einer der Nebeneffekte dieses Umstandes ist das Phänomen jener „Schutz- und Trutzgesellschaften“, die sich einen Komponistennamen zum Kampfruf erküren und in hoc signo einen Großen verherrlichen und vermarkten, einen Verkannten verteidigen oder an einen Vergessenen erinnern. Mehrere Hundert dieser Gesellschaften werben heute um Aufmerksamkeit und Mitglieder, und daß ihre Zahl stetig wächst, paßt recht gut zum Selbstverständnis einer Zeit, die die Kultur eigentlich nur als dekorative Kür neben den kapitaleren Pflichten des Lebens gelten läßt, und der die museale Bewahrung vergangener Herrlichkeiten zum kulturellen Hauptanliegen geworden ist.

All das ging mir durch den Kopf, als Thomas Badrutt mich vor einigen Jahren mit seiner Idee der Gründung einer „Internationalen Paul-Juon-Gesellschaft“ konfrontierte. Mit Juons Musik war ich das erste Mal 1984 in nähere Berührung gekommen, und ihre eigenpersönliche Prägung hatte mich vom ersten Moment an gefangen genommen. Ich bin sicher, daß auch Thomas, trotz – oder besser: gerade wegen – seiner Begeisterung für Juons Musik, einen nicht unbeträchtlichen inneren Widerstand zu überwinden hatte, als es um die Schaffung einer „äußeren“ Organisation für ein Anliegen ging, das auf tiefer Zuneigung und geistiger Liebe gründete; denn Empfindungen dieser Art wehren sich dagegen, an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Aber schließlich obsiegte bei ihm ebenso wie bei seinen erwählten Mitstreitern die Sehnsucht, ein – zumindest von uns als ein solches empfundenes – Unrecht der Rezeptionsgeschichte wiedergutzumachen, über die instinktive Skepsis gegenüber allem Plakativen.

Juon_Paul_1929

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Daß Juon in einen sensiblen, ja geradezu labilen Moment der Musikgeschichte hineingeboren wurde, macht schon ein flüchtiger Blick auf die Chronologie deutlich: Wenn man auch nur die um bis zu drei Jahre älteren oder jüngeren Zeitgenossen Juons Revue passieren läßt, dann steht man vor einer eindrucksvollen Galerie genialer Komponisten, in deren Œuvre sich Bewahrung und Umbruch in gärender, brodelnder Mischung durchdringen, Komponisten, die janusköpfig epimetheische und prometheische Züge in sich vereinen: ( – nicht zufällig verwendete Walter Labhart in einem 1990 erschienenen Artikel mit Blick auf Juon die Wendung „musikgeschichtlicher Anachronismus mit Pioniergeist“, die spiegelbildlich jener berühmten Klassifikation Schönbergs als „konservativer Revolutionär“ entspricht – ): Pfitzner und Reger, Rachmaninov und Skrjabin, Zemlinsky und Schönberg, Roussel und Ravel; mit dem Amerikaner Ives und dem Armenier Komitas melden sich Regionen zu Wort, die bis dahin im Konzert der okzidentalen Kunstmusik unvernehmbar waren. Und hier tritt neben dem zeitlichen auch der räumliche Aspekt von Juons Stellung in unser Gesichtsfeld: Juons Biographie stellt ihn exakt an den Schnittpunkt jener drei großen Kulturkreise, die die abendländische Geschichte bestimmen und beherrschen: In Moskau, dem „dritten Rom“ der Panslavisten, geboren, verleugnet er weder in seiner Musik noch in seinem Wesen die tiefe slavische Prägung; als mit dem Mendelssohn- und dem Beethovenpreis ausgezeichneter Wahlberliner ist er so fest in der deutschen Kultur verwurzelt, daß er den Ungeist, der Beethoven und Mendelssohn zu Antithesen stempeln will und dem es in kürzester Zeit gelingen sollte, den Begriff des „Germanischen“ in der geistigen Welt unbrauchbar zu machen, gar nicht erst erkennen und wahrhaben will. In Vevey, dem Viviscus der Römer, verbringt er seinen Lebensabend, mit dem Blick auf den Lacus Lemanus, das unverlierbare Sinnbild europäischer Romanität.

Als das künstlerische Tagebuch eines Wanderers zwischen den Welten an der Wasserscheide zwischen zwei Zeiten, gewinnt Juons Œuvre somit eine symbolische Bedeutung, die über die großen Qualitäten seiner einzelnen Werke noch hinausreicht. Und ich denke, daß es eben diese Dimension seiner Erscheinung ist, die nicht nur die Existenz unserer Gesellschaft rechtfertigt, sondern auch ihr eigentliches, hintergründiges Programm vorgibt: Natürlich geht es um Erschließung, Verbreitung und Würdigung von Juons Werken, die Erforschung seiner Lebensgeschichte und die Bestimmung seiner Position im geistigen Europa, kurz: um den bemerkenswerten Komponisten; dahinter aber lockt die Möglichkeit, mithilfe des seismographisch sensiblen Mediums, das Juon auch ist, tieferen Einblick in die spirituelle Anatomie einer faszinierenden Umbruchszeit zu gewinnen, deren Zauber mit zunehmender zeitlicher Entfernung eher zu- als abzunehmen scheint.

Wenn wir dieses verborgene Ziel und uneingelöste Versprechen, das hinter unserer Beschäftigung mit dem Phänomen Paul Juon liegt, nicht aus den Augen verlieren, dann hat unsere Gesellschaft die Chance, nicht einfach der 746. Verein zu Ehren eines Komponisten, sondern eine Anregerin, Vermittlerin und Fürsprecherin für die Bewältigung der wahrscheinlich vielschichtigsten und facettenreichsten Aufgabe der neueren Kulturgeschichtsschreibung zu sein.

Daß diese Aufgabe durchaus keine Fleißaufgabe, sondern ein dringendes Postulat ist, erscheint mir angesichts einiger Tendenzen der aktuellen Kunstmusik fraglos. Was die Produktion jener Musik betrifft, die mit den peinlichen Bezeichnungen „E-Musik“ oder gar „klassische Musik“ gebrandmarkt wird, so hat sich in den letzten Jahrzehnten herausgestellt, daß der – weder leichtsinnig noch mutwillig, und schon gar nicht schmerzlos – vollzogene Abschied von der Tonalität kein endgültiger war. Die von den tonalen Experimentatoren der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts aufgezeigten und nur zum Teil beschrittenen Wege gewinnen in dieser Phase für eine junge Komponistengeneration ganz unerwartete Aktualität. In der Musikrezeption, besser gesagt: im Musikkonsum machen sich oberflächlich divergente Phänomene bemerkbar, die vielleicht doch eine gemeinsame Wurzel haben: da ist einerseits die Unkultur des „Easy Listening“, jener für den Bedarf von Zahnarztordinationen mitleid- und rücksichtslos kastrierten „Klassik“, die als musikalisches Tapetenmuster von computergenerierter „U-Musik“ eigentlich nicht mehr zu unterscheiden ist, andererseits eine – anhand von Radioprogrammen recht gut belegbare – Vorliebe für die Musik der Zeit vor 1750 sowie für die allerneueste Tagesproduktion: also von Musiksparten, deren hermeneutische Dimension den allermeisten Hörern nicht mehr oder noch nicht zugänglich ist. All das kommt dem „unbelasteten“ Musikkonsum entgegen und läßt bei weiten Teilen des potentiellen Publikums die Fähigkeit zum Verständnis der Musik als eines komplexen sprachlichen Codes verkümmern. Auch hier kann das Werk von Komponisten wie Paul Juon, also Musik, die den Reiz des Unbekannten und Ungewöhnlichen mit der Bewahrung der Bindung an idiomatische Traditionen verbindet, als Antidotum gegen einen ornamental-unverbindlichen Umgang mit der Sprache der Musik dienen.

Freilich entbinden uns diese weiterreichenden Perspektiven, die unser Engagement für Juon zusätzlich motivieren können, nicht all jener Pflichten, ohne deren Wahrnehmung wir keines der angestrebten Ziele erreichen können: der Gewinnung neuer Mitstreiter und Förderer, der Nutzung bestehender und Erschließung neuer Synergien, der Pflege der Beziehungen zu Schwestergesellschaften in der Hoffnung auf wechselseitige Anregung und Unterstützung – kurz, all jener Agenden, die Thomas Badrutt so souverän, liebevoll und umsichtig zu koordinieren verstand. Der heute durch Sie bestätigte Vorstand wird sich bemühen, mit Ihrer aller Hilfe dieses ihm auf tragische Weise vorzeitig und unverdient zugefallene Erbe in seinem Sinne und Geiste zu verwalten und zu mehren.

Anklänge – Gedanken zum Wesen des Zitats bei Johannes Brahms

Das Phänomen der bewußten Wiederverwendung musikalischer Formulierungen außerhalb des Kontextes, für den sie geprägt wurden, hat schon viele Generationen von Musikliebhabern und -forschern fasziniert. Bei manchen Menschen ist die Wiederhörensfreude so groß, daß sie fast zwanghaft der Sucht erliegen, in kriminalistischer Kleinarbeit überall tatsächliche oder vermutete Zusammenhänge aufzuspüren und sie auf mehr oder weniger gewagte Weise hermeneutisch zu deuten. Brahms hat zwar mehrmals seinen Unmut über diese musikalische Reminiszenzenjagd bekundet, hat aber den sie provozierenden Kunstgriff keineswegs verschmäht. Im Gegenteil: es gibt wenige Komponisten, von denen die vielschichtigen Evokationsmöglichkeiten solcher „Transplantationen“ so subtil und so effizient genützt wurden wie von Brahms.

In den hundert Jahren, die uns von Brahms trennen, hat dieses Phänomen an absoluter Häufigkeit und an spezifischem Gewicht innerhalb einzelner Werke zugenommen. In manchen Fällen, etwa im Œuvre von Bernd Alois Zimmermann, hat es sogar dominante Bedeutung gewonnen. Diese unüberhörbare Entwicklung kann in verschiedenster Weise gedeutet werden. So wurde argumentiert, daß das Zitat in seiner semantischen Polyvalenz der Musik Mitteilungsebenen zurückgewinnen könne, die ihr in Abwesenheit einer verbindlichen idiomatischen Norm sonst verloren gingen – in dieser Deutung wird das Zitat zum Ausweg aus der Sprachlosigkeit.[i] Verbreiteter dürfte hingegen die kulturpessimistische Annahme sein, die Vorliebe für das Zitat sei ein Symptom für das Nachlassen originaler schöpferischer Fähigkeiten. Diesem modischen Lamento wäre vielerlei entgegenzuhalten: vor allem aber die beweisbare Tatsache, daß alle uns bekannten Hochkulturen mit zunehmendem Alter eine Vorliebe für jene künstlerische Verfahren entwickelt haben, die es ermöglichen, den angesammelten Ideen-, Formen- und Bilderreichtum in assoziativer Weise zu nützen; und daß viele der beeindruckendsten Kulturleistungen der Menschheit Produkte solch „eklektischer“ Phasen sind.

Die weite Verbreitung, die die verschiedenen Verfahren der Wiederverwendung musikalischer Antefacta in der jüngeren und jüngsten Musikgeschichte gefunden haben, hat das Erscheinen einer Reihe methodischer Arbeiten und Materialsammlungen sowie einer Vielzahl spezieller Untersuchungen zu diesem Phänomen veranlaßt. Es liegt in der Natur solcher musikwissenschaftlicher Arbeiten und entspricht ihrer Zielsetzung, daß die gewählte Perspektive entweder (bei den grundlegenden Studien) sehr allgemein oder aber (bei den detaillierten Abhandlungen) sehr konkret ist. Die hier kurz skizzierten Gedanken und Bemerkungen zur Brahmsschen Kunst des Zitierens sind demgegenüber aus einem anderen Blickwinkel, nämlich dem des Interpreten, formuliert. Mit der Einnahme dieses Standpunktes nimmt man notgedrungen einige Unschärfen in Kauf. So werden etwa die meisten Interpreten zwar den klaren und nützlichen Begriffsunterscheidungen, die der Methodiker zwischen den verschiedenen Möglichkeiten und Formen der Verwendung von Antefacta trifft, zu folgen vermögen, aber diese Differenzierungen werden im Umgang mit der klingenden Realität des musikalischen Kunstwerkes von sehr untergeordneter Bedeutung bleiben. Der musikalische Text erweckt Assoziationen, auf die der Interpret reagiert. Wie diese Reaktion ausfällt, ist von der Empfänglichkeit des Interpreten für die verschiedenen Bedeutungsebenen dieser Assoziation, mittelbar also sicher auch von seinem Wissen, abhängig. Es ist aber nicht anzunehmen, daß diese Reaktion ihrem Wesen nach das Resultat einer Überprüfung des sie auslösenden Phänomens etwa gemäß den von Zofia Lissa vorgeschlagenen dreizehn Bedingungen für das Vorhandensein eines Zitates[ii] oder den von Kenneth R. Hull formulierten sechs Kriterien für das Vorliegen einer Anspielung[iii] ist. Auch aus diesem Grunde verwende ich hier den Begriff „Zitat“ nicht in seiner streng wissenschaftlichen Bedeutung sondern nur als eine praktische Kurzbezeichnung für die bei Brahms anzutreffenden Spielarten der Wiederverwendung fremder und eigener musikalischer Formulierungen, unabhängig davon, ob es sich dabei um „Zitate“ im engsten Sinne, Anspielungen, Entlehnungen oder Anklänge handelt. Diese letzte Bezeichnung habe ich als Überschrift gewählt, weil sie auch der Titel eines Brahmsliedes (op.7 Nr.3) ist, das, ohne im eigentlichen Sinne zu zitieren, einige der hier berührten Wesenszüge des Brahmsschen Zitates aufweist.[iv]

Wie wohl kein anderer Komponist vor ihm hat Brahms die musikalische Tradition, aus der sein Werk hervorgehen sollte, nicht nur als eine notwendige Vorbedingung seines Schaffens, sondern bewußt auch als eine belastende Hypothek erlebt. Seine berühmten, oft zitierten und fast ebenso oft überinterpretierten Worte von den Schritten des Riesen, die er hinter sich zu vernehmen glaubt, belegen, trotz aller bei der Kommentierung Brahmsscher Äußerungen gebotener Vorsicht, zumindest das Faktum, daß Brahms die eigene Beziehung zu seinen großen Vorgängern nicht nur reagierend, also komponierend, sondern auch reflektierend definierte. Aber auch schon hinter dieser simplen Feststellung lauern jene Mißverständnisse, aus denen die Brahmsrezeption seit jeher zum allergrößten Teil besteht: das Fortspinnen dieses Gedankens könnte zu einer wertenden Gegenüberstellung von agere und flectere verleiten und uns in letzter Konsequenz an der Untiefe des auf Brahms gemünzten Nietzsche-Wortes von der „Melancholie des Unvermögens“ stranden lassen.

Daß für den (sicher nicht geringen) musikalischen Verstand des Wagner-Feindes Nietzsche das Phänomen Brahms zu gewaltig war, soll uns hier nicht weiter beschäftigen; da aber in Nietzsches Verdikt sich ohne Zweifel auch die Meinung des von dem unglücklichen Musiker-Philosophen in Haßliebe umkreisten Zentralgestirns Wagner widerspiegelt, können wir uns einen kurzen Seitenblick auf dessen Urteil über Brahms nicht versagen – wie immer getrübt es spätestens seit der von Brahms mitinitiierten unseligen „Erklärung“ von 1860 auch gewesen sein mag. Wagner schreibt mit überdeutlichem, wenn auch hämisch verzerrtem Bezug auf Brahms:

„Ich kenne berühmte Komponisten, die ihr bei Konzertmaskeraden heute in der Larve des Bänkelsängers (»an allen meinen Leiden«!), morgen mit der Hallelujah-Perrücke Händels, ein anderes Mal als jüdischen Czardasaufspieler und dann wieder als grundgediegenen Symphonisten in eine Numero Zehn verkleidet antreffen könnt.“[v]

Und gerade diese ohnmächtig wutschnaubende Tirade führt uns geradenwegs zum Thema: denn, obwohl Wagner sich hier die Feder von den unverläßlichen Gehilfen Neid und Haß führen hat lassen, trifft er doch mit einer dem Genie oft auch in seinen Fehlurteilen und Verirrungen eigenen Hellsichtigkeit einen Wesenszug der Brahmsschen Musik, der uns hier beschäftigt – nämlich die Kraft der Anverwandlung, die ihr innewohnt und die einen Teil jenes Zaubers ausmacht, gegen den auch der Magier Wagner kein Mittel weiß.

Freilich sind die hier von Wagner verächtlich gemachten Bezugspunkte der Brahmsschen Musik ­– Beethoven, die barocke Musiktradition und die Volksmusik – nur ein Teilaspekt ihrer evokativen Möglichkeiten; Wagner selbst scheint die Unzulänglichkeit des Angriffs empfunden zu haben, denn einige Zeilen weiter nennt er seinen fiktiven Gegenspieler mit den absichtsvoll überzeichneten Brahmszügen den „Komponist[en] des letzten Gedankens Robert Schumanns“[vi] und berührt damit, taktlos und oberflächlich, eine weit wichtigere Quelle dieser Möglichkeiten. Denn er denkt natürlich an die 1861 (also nicht lange nach dem Eklat um die „Erklärung“) komponierten und Schumanns Tochter Julie gewidmeten vierhändigen Variationen op. 23, in denen Brahms jenes „Geisterthema“ verarbeitet, das Schumann in den Tagen der Februarkatastrophe beschäftigt hatte.[vii] Tatsächlich wollte ja Brahms bei der Herausgabe des Werkes im Titel den Bezug zu jenem vermeintlich „letzten musikalischen Gedanken Robert Schumanns“ herstellen, was er dann, dem Wunsche Claras[viii] entsprechend, unterließ. Wenn ich diesen Anknüpfungspunkt für wichtiger erachte als etwa die zahllosen Querbezüge zum Werk Beethovens, so entspringt diese Einschätzung weder einem quantifizierenden Kalkül noch auch einer ästhetischen Wertung (die in diesem Falle eine die Wagnersche Instinktlosigkeit noch übertreffende Anmaßung wäre). Wichtiger ist diese Quelle vielmehr nur deswegen, weil ihre eigene Natur uns etwas vom Ursprung der Brahmsschen Kunst des Zitierens verrät.

Schumann selbst war nämlich davon überzeugt, daß ihm das ominöse Thema von Schubert und Mendelssohn, die ihn in einer Traumvision heimgesucht hatten, diktiert worden sei; tatsächlich aber entstammt ja das Thema, wie inzwischen hinlänglich bekannt, dem langsamen Satz von Schumanns, kurz davor komponiertem, eigenem Violinkonzert. Es handelt sich hier bei Schumann also um ein vermeintliches Fremdzitat, das in Wahrheit ein Selbstzitat ist. Der schöne und berührende „Selbstbetrug“, der da am Ende von Schumanns Lebenswerk steht, findet seine geheimnisvolle Entsprechung ganz am Anfang seiner kompositorischen Laufbahn: In Schumanns drittem Tagebuch, den Hottentottiana, findet sich folgende, zunächst alltäglich erscheinende, doch bei näherer Betrachtung sehr bemerkenswerte Sequenz:[ix]

Studentenextremitäten am 30sten [November 1828]

Früh bei Wiek – […] Probst von hinten u. von vorne – Trio v. Schubert u. die Kritiker – Wiek´s Ver- u. Entzückung – […] Violinspieler Müller und Grabau Entzükung bey´m Trio –

Dito am 31sten (vulgo 1ster December) [1828]

Mein Quartett – Schubert ist tod – Bestürzung – […] – Aufgefundene Charakteristik meiner selbst u. mein inneres Lächeln.

Dieser Passus ist das flüchtige und verschlüsselte Dokument einer Berufung, die entgegen dem ersten Anschein sehr wohl etwas mit Johannes Brahms zu tun hat: Eingebettet in eine Alltagsszene, deren Nebenfiguren freilich alles andere als zufällig sind, blitzt hier die Erkenntnis eines Vermächtnisses auf. Alles an dieser Konstellation scheint der Feder eines allzu phantasievollen Musikschriftstellers entsprungen: die auf die Begeisterung über das Trio folgende Erschütterung durch die Todesnachricht, die wie zufällige erste Erwähnung von Schumanns eigenem ersten Kammermusikwerk (dem Klavierquartett c-moll), die im Hinblick auf Schumanns weiteren Lebensweg symbolträchtigen Zeugen der Szene[x] und endlich die Selbstfindung, die eine früher versuchte Charakterisierung lächelnd verwerfen kann.

Hier ahnt man ein wenig von jenem Mysterium der innigen Seelenverwandtschaft, das in Schumanns Denken und Leben eine so große Rolle spielt. Und von hier aus werden die Brahms betreffenden Prophezeiungen der „Neuen Bahnen“ erst richtig verständlich: als die bewußte und willentliche Weitergabe eines großen Erbes, das Schumann selbst auf rätselhafte Weise von Schubert empfangen hatte.

Obwohl Schumann selbst seine „Berufung“ zur Schubert-Nachfolge – trotz des poetisch überhöhten Tones der Hottentottiana hat er sich selbst freilich nie zu einer so unmißverständlichen Deutung des Vorganges hinreißen lassen – vielleicht als Gnade, sicher aber nicht als Hypothek empfand, hatte auch er mit dem Genius, der da in ihn gefahren war, zu ringen. Das Scheitern gleich des ersten ehrgeizigen Kammermusikprojektes, eben jenes gewissermaßen aus dem Geiste Schuberts empfangenen Klavierquartetts, ist nur ein beredtes Zeugnis für dieses Ringen.[xi] Aber im allgemeinen darf man wohl sagen, daß Schumann diese gedachte Berufung weit weniger zu schaffen machte als Brahms die persönliche und öffentliche, die ihm durch Schumann widerfahren sollte. Gerade die offenkundigen (und oft diskutierten) Probleme, die diese mit den „Neuen Bahnen“ nach außen hin vollzogene „Inthronisation“ des jungen Komponisten mit sich brachte, scheinen die Entwicklung von Johannes Brahms nachhaltig und auf mehreren Ebenen beeinflußt zu haben.

Die uns hier beschäftigende Ebene, nämlich die Ausprägung einer Brahms eigenen Zeichensprache, in der Zitate eine zentrale Rolle spielen, hat in ganz besonderer Weise mit der sich in diesen symbolhaften Vorgängen widerspiegelnden Filiation Schubert – Schumann – Brahms zu tun. Die spezielle Qualität dieses Zusammenhanges erschließt sich am ehesten, wenn man sich dem Thema in „unwissenschaftlich“-naiver Haltung nähert: indem man sich Brahms-Zitate in Erinnerung ruft, die besonders „treffen“.

Die meisten Hörer werden bei diesem Versuch, sobald sie einmal die anekdotisch überstrapazierten „Oberflächenzitate“[xii] beiseite lassen, wohl unweigerlich bei den Selbszitaten anlangen, mit denen Brahms an unzähligen Stellen seiner Instrumentalkompositionen eigene Lieder heraufbeschwört.

Diese oft konstatierten und kommentierten Querbezüge zwischen dem Vokalwerk und der Instrumentalmusik von Johannes Brahms werden üblicherweise ausschließlich aus dem Blickwinkel des Anekdotischen betrachtet. Brahms selbst scheint für diese Betrachtungsweise ausreichend Anlaß zu geben: Wenn im Finale der nach dem Zeugnis Kalbecks „in Erwartung der Ankunft einer geliebten Freundin“ niedergeschriebenen A-Dur-Sonate op. 100 die Schlüsselwendung eines Liedes (op.105 Nr.2) erscheint, dessen Text mit den Worten „Komm, o komme bald!“ schließt, so drängt sich eine naiv-anekdotische Interpretation dieses Selbstzitates geradezu auf. Fast alle Liedzitate bei Brahms lassen sich recht mühelos auf diese Weise „entschlüsseln“, und dieser Umstand deutet an, daß eine solche Lesung nicht nur legitim, sondern darüber hinaus auch vom Komponisten intendiert ist. Auch wortbezogene Fremdzitate, wie etwa das berühmte (in der Endfassung von 1889 eliminierte) Beethovensche „Nimm sie hin denn, diese Lieder!“ aus dem Schlußsatz des Klaviertrios op. 8, fügen sich scheinbar widerspruchslos einer solchen Deutung. Die wortgebundene Musik wäre demnach ein Art Steinbruch, aus dem der Komponist nach Lust und Laune fertige „Sinnbilder“ herausbricht, um sie – zur Freude des Eingeweihten – im wortlosen Kontext der Instrumentalmusik zur Sprache zu bringen.

Um beurteilen zu können, ob eine solche Sichtweise dem Phänomen zur Gänze gerecht wird, sollte man sich fragen, wo und wie es sich schon vor Brahms manifestiert hat; denn wir wissen aus zahllosen Äußerungen von Brahms, daß er scheinbare „Eigenheiten“ immer wieder mit der Autorität der Tradition verteidigte. Dann aber gilt es zu klären, ob und inwieweit Brahms diesen „Kniff“ vielleicht doch in einer ihm eigenen, von seinen Vorgängern abweichenden Weise einsetzt, und, sollte dies der Fall sein, worauf sich denn diese „typisch Brahmsische“ Verwendung eines tradierten Kunstgriffes gründet.

Die erste Schwierigkeit stellt sich uns freilich schon bei der Definition des zu untersuchenden Phänomens in den Weg. Peter Rummenhöller stellt gleich zu Beginn seines Aufsatzes „Liedhaftes“ im Werk von Johannes Brahms klar, daß es ihm „weder um die Aufspürung konkreter Liedzitate (z. B. besonders deutlich in der Akademischen Fest-Ouvertüre) noch um das allgemein »Kantable« bei Brahms zu tun [ist], denn beides findet sich vor und jenseits unserer Problematik in fast allen Epochen der europäischen Musikgeschichte.“[xiii] Das spezifische Phänomen, um das es auch uns geht, hat wirklich mit der Aufspürung konkreter Liedzitate in der Art der in der Akademischen Fest-Ouvertüre verwendeten nichts zu tun. Diese Liedzitate – im konkreten Fall handelt es sich um Volks- und Studentenlieder, die Brahms wahrscheinlich dem Commers-Buch für den deutschen Studenten von 1861 entnommen hat – belegen eine tatsächlich zu allen Zeiten übliche Praxis des Rückgriffs auf bekanntes und allgemein verbreitetes Melodiengut. Charakteristisch für diese Art des Zitates ist der überpersönlich-emblematische Ton, mit dem es vorgebracht wird. Um diesen Ton überhaupt anschlagen zu können, muß das zitierte Material sich aber auch für eine solcherart „plakative“ Verwendung eignen. Choräle, offizielle und inoffizielle Hymnen, politische Lieder – kurz: alles, was gemeinschaftsbildende Signalwirkung ausstrahlt, ist die Domäne dieser Form des Zitates. Brahmsens Gaudeamus gehört ebenso hieher wie Beethovens God save the King (in Wellingtons Sieg op. 91), Čajkovskijs Hymnenzitate in den Ouverturen op. 15 und op. 49 oder die unzähligen Marlborough und Marseillaise-Zitate in der Musik der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts (und darüber hinaus).[xiv] Beispiele für die Verwendung solcher emblematischen, überpersönlichen Zitate ließen sich tatsächlich in großer Menge aus allen Epochen der Musikgeschichte anführen. Ganz anders steht es aber mit der Erscheinung, die uns interessiert. Die eingangs erwähnten Zitate in Brahmsens Instrumentalwerken sind gewissermaßen individueller, privater Natur. Sie haben sogar, und das scheint für diese Sonderform des Zitates ein konstitutiver Zug zu sein, einen sozusagen „hermetischen“ Sinn: sie wenden sich an einen Eingeweihten, Vertrauten. Als Quelle dieser Art von Mitteilung eignet sich in erster Linie das Kunstlied (als Fremd- oder Selbstzitat) oder ein „intimeres“ Volkslied. Es erstaunt nicht, daß diese Spielart des Zitates erst in der Zeit der Entstehung einer bürgerlichen Musikgesellschaft zur vollen Entfaltung kommt. Im bürgerlichenSalon und in dem sich dort zusammenfindenden vertrauten Freundeskreis bietet sich die Chance, auch mit solchen stillen und verborgenen Zeichen verstanden zu werden. Ebensowenig überrascht es, daß die typischsten Beispiele dieser Zitatform der Kammermusik entstammen, während das schlagendere, auffälligere und meist schon widmungsgemäß für die breite Öffentlichkeit bestimmte Zitat der zuerst erwähnten Art meistens in der symphonischen Musik zuhause ist.

Während Brahms das „plakative“ Zitat nur gelegentlich verwendet, ist das „hermetische“ ein fast allgegenwärtiger Wesenszug seiner Musik. Die Musikwissenschaft hat mittlerweile eine beeindruckende und verwirrende Menge solcher Zitate registriert und kommentiert. Daß Brahms hiemit zunächst kein Neuland betrat, ist bekannt. Angesichts dessen, was wir über die beziehungsreiche Konstellation der Trias Schubert–Schumann–Brahms und ihren gemeinsamen Bezugspunkt Beethoven wissen, erstaunt es nicht, Brahms hier auf Pfaden wandeln zu sehen, die Schubert und Schumann vor ihm (unterschiedlich weit) gegangen waren.[xv] Die Beethoven-Reminiszenz in Schuberts Auf dem Strome (D 943)[xvi] ist eine der charakteristischen Markierungen am Anfang dieses Weges. Auch Schuberts auffällig zahlreiche Selbstanleihen dokumentieren ein erstes Stadium dieser Entwicklung.[xvii] Natürlich nimmt Schubert, wo er eigene Lieder im instrumentalen Gewand wiederverwendet, auch die Stimmungsebene des Textes sozusagen en passant wieder auf. Doch ein „wörtlicher Bezug“ im genaueren Sinn ist nicht das Ziel dieser Verwandlung. Schumann geht auf dem von Schubert vorgezeichneten Weg einen wichtigen Schritt weiter: Wenn Schumann eigene und fremde Vokalmusik zitiert, nützt er immer die ganze Botschaft des verschwiegenen Textes, und zwar immer in „hermetischer“ Weise. Ein besonders schönes Beispiel dieser intimen Kunst findet sich etwa im ersten Satz des Klaviertrios op. 80, wo die Melodie des zweiten Liedes aus dem Liederkreis op. 39 („Dein Bildnis wunderselig“) in einer schwärmerisch überhöhten Variante erscheint. Wie vertraut Brahms mit diesem Schumannschen Kunstgriff gewesen sein muß, zeigt das wohl berühmteste Doppelzitat der Musikgeschichte, nämlich das schon oben erwähnte Zitat aus Beethovens An die ferne Geliebte in der ersten Fassung des Klaviertrios op. 8. Schumann hatte die (durch die ihr bei Beethoven unterlegten Worte bedeutungschwere) Wendung gleichsam als Widmung an Clara in der Coda des ersten Satzes der Fantasie op. 17 zitiert (und sich in einer Reihe späterer Werke liebevoll dieses Zitates erinnert).[xviii] Die Wiederaufnahme dieses nun also schon mehrere Bedeutungs- und Erinnerungsebenen umspannenden Mottos als Kopfmotiv des Seitenthemas im Finalsatz des Klaviertrios, das Brahms in den Monaten nach der ersten Begegnung mit Robert und Clara Schumann komponierte, ist ein besonders berührender Beleg für die Möglichkeiten einer solchen über- und außermusikalische Bedeutungsebenen mit einbeziehenden Bezugnahme.

Bekanntlich fehlt dieser Bezug in der Endfassung des Werkes ebenso wie das nicht weniger suggestive Schubertzitat (Am Meer, D 957 Nr. 12) aus dem Adagio der Frühfassung. Da wenige Jahre vor der Umarbeitung des Werkes der erste Hinweis auf diese Zitate in der Brahmsliteratur nachweisbar ist[xix] hat man angenommen, daß die Eliminierung der durch diese „Demaskierung“ belasteten Bezüge einer der Hauptgründe für die Idee der Neufassung (die ja in Wahrheit eine Neukomposition wurde) gewesen sei.[xx] Eine solche Argumentation paßt sehr gut in das Bild des Meisters, der sich „nicht in die Lieder“ blicken lassen will. Allerdings läßt sich dann nicht leicht erklären, warum Brahms ausgerechnet im Jahr nach der öffentlichen „Entschlüsselung“ seiner auf Clara bezüglichen Beethoven-Schumann-Referenz eine gekürzte Fassung der verräterischen Wendung an prominenter Stelle im Finale der Vierten Symphonie (Takt 109-110) anbrachte.[xxi] Die Motive für das „Verschweigen“ jener zwei Zitate der Frühfassung des Klaviertrios, die durch ihre textlichen und biographischen Bezüge in besonderer Weise eine das persönliche Erleben des Komponisten berührende Deutung provozieren konnten und mußten, hat mit einiger Wahrscheinlichkeit auch persönliche Gründe gehabt; der wesentliche Anstoß für diese folgenschweren und weitreichenden Eingriffe in das Jugendwerk war aber wohl ein anderer.[xxii]

Brahms hatte in den Jahren seit der ersten Niederschrift des Werkes seinen musikalischen Umgang mit Zitaten in so bemerkenswerter und zielstrebiger Weise kontinuierlich verfeinert, daß ihm die Zitate der Frühfassung wohl „naiv“ erscheinen mußten. Wie wir aus den in sein Spätwerk reichlich eingeflossenen Zitaten wissen, lag ihm allerdings nichts ferner, als auf diese Dimension seiner Musik zu verzichten. Nur war ihm offensichtlich daran gelegen, diese Dimension zu einer rein musikalischen zu machen. Das erscheint im Zusammenhang mit dem Zitieren ursprünglich textgebundener Musik paradox: Ist nicht die dabei in Kauf genommene „Kontamination“ der Musik mit außermusikalischen Inhalten der wesentlichste Anreiz für diese Art des Zitates? Zweifellos; aber der Vorgang an sich weist doch auch in die entgegengesetzte Richtung: das vokale Zitat in instrumentaler Gestalt ist nämlich ganz unbestreitbar ein Schritt weg von der Wortsprache hin zur Tonsprache. Das verschwiegene Wort fließt in die Musik ein und bereichert sie von innen. In komplementärem Bezug auf die eingangs erwähnte Deutung des Zitates als Mittel zur „Überwindung der Sprachlosigkeit“ könnte man aus diesem Blickpunkt den Schritt von der wortgebundenen zur rein instrumentalen Musik als einen Akt der „Entsprachlichung“ sehen.[xxiii] Doch nicht Reduktion, sondern Sublimierung ist der Sinn dieser Übung. Das Traumziel ist, in der sehnsüchtigen Vision des Dichters:

„Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehen? – Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?“[xxiv]

Indem der Mensch die Dinge benennt, verwandelt er sie. Wenn das Nennbare sich der Musik verbindet, entsteht eine neue, unsichtbare Welt. Das Wort, das sich schließlich in Musik gelöst hat, ist die erlösende Metamorphose dieser Welt des Säglichen. Solange aber die Worte in der Musik mitgehört werden, ist diese zweite Verwandlung noch nicht ganz vollzogen. Natürlich kennt Brahms, noch weit inniger als alle seine Hörer und Interpreten, den Zauber aller Zwischenstadien auf diesem Verwandlungswege: Seine lebenslange Liebe zum Lied beweist es. Aber entgegen der landläufigen Meinung, daß nämlich das Zitat zwangsläufig „über den Rahmen der reinen absoluten Musik hinausgeht“[xxv], scheint Brahms den Beweis antreten zu wollen, daß die Musik über die Kraft verfügt, das im Zitat gefangene Wort zu erlösen: Bei ihm nimmt die Musik – die eigene und die der Nächsten – die Sprache in sich auf, und das Wort geht restlos in Tönen auf.

Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß die Worte, mit denen sich die Brahmsschen Motive zuerst verbunden haben, auch in der instrumentalen Verinnerlichung noch weiterleben. Das Auffinden solcher Bezüge wird daher erhellend bleiben. Doch, ganz als hätte Brahms unsere Neugier auch auf diesen Schleichpfaden schon erwartet, hinterläßt er uns auch auf diesem Weg recht unmißverständliche Botschaften. So zitiert er im Intermezzo h-moll op. 119 Nr. 1 den Beginn eines Liedes (op. 106 Nr. 4) mit dem Text:

„Wenn mein Herz beginnt zu klingen
Und den Tönen löst die Schwingen,
Schweben vor mir her und wieder

Bleiche Wonnen, unvergessen,
Und die Schatten von Cypressen.
Dunkel klingen meine Lieder!“[xxvi]

Der fast wie eine Warnung klingende Hinweis auf die „dunklen Lieder“ inmitten jener Werkgruppe (op. 116 bis op. 119), in der man eine letzte und unwiederholbare Manifestation des romantischen Topos der „Lieder ohne Worte“ sehen könnte, kommt wohl nicht von ungefähr. Aber trotz dieser sich auch noch in den allerletzten Werken manifestierenden Möglichkeit, den Wortsinn neben der musikalischen Metamorphose noch bestehen zu lassen, kann doch nichts darüber hinwegtäuschen, daß Brahms dieser Krücken schon lange nicht mehr bedarf. Für Brahms hat sich das „Problem“ Sprache und Musik gelöst.

Wenn Brahms, lange bevor sein körperlicher Verfall sich ankündigt, gezielt daran geht, sein Lebenswerk abzuschließen, muß das wohl im Wissen um ein erreichtes Ziel und eine gelöste Aufgabe geschehen. Vielleicht hat er selbst in der Antwort auf jene von Schubert und Schumann aufgeworfene Frage nach dem Schicksal des Wortes in der Musik diese Aufgabe gesehen?

Dieser wohl müßigen Spekulation steht unser klares Wissen gegenüber, daß Brahms in seiner Fähigkeit, die ganze äußere Welt in seine Musik aufgehen zu lassen, einen Endpunkt markiert. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich hier unverwechselbar individuelle Chiffren und der vorgefundene Reichtum einer lange gewachsenen, beziehungsvollen Zeichensprache zu einem Idiom von seltener Klarheit verbinden, läßt die fast gleichzeitig entworfene programmatische Symbolsprache Wagners mit ihren lexikalisch starren Leitmotiven trotz aller unleugbaren Genialität rhetorisch und gesucht erscheinen. Daß das bei Brahms erzielte, verletzliche und auch hier immer bedrohte Gleichgewicht zwischen rührender Schlichtheit und erschütternder Vieldeutigkeit trotz seiner Ewigkeit verheißenden Monumentalität nur einen kurzen historischen Moment währen konnte, wird vielleicht nirgendwo so deutlich wie im Umgang der nachbrahmsischen Zeit mit dem Kunstmittel des Zitates: Was bei Brahms in Erfüllung eines von Schubert und Schumann gegebenen Versprechens unveräußerliches Zeichen einer geglückten Anverwandlung war, wird rasch wieder zu einem modischen und geistreichen Aufputz. Schon bei Richard Strauss ist das Zitat wieder nichts als Zutat – weltmännisch und selbstgefällig zubereitet und serviert. Nur noch etwa in den Selbstzitaten Mahlers findet sich ein träumerischer Reflex jenes Geistes, der das unangetretene Erbe von Brahms ist.[xxvii]

Mit der Kraft der Anverwandlung, die Wagner in seiner eingangs zitierten Attacke absichtsvoll als trickreiches Maskenspiel mißverstehen wollte, konnte Brahms seine Welt schlackenlos zu Musik machen. Die Bilder, Zeichen und Worte dieser Welt, die er zitiert, gehen in Musik ein – als wäre der zitierende Ruf eine Verheißung und Musik ein erlösender und befreiender Tod. (Die Spötter, die ihn „Das Grab ist meine Freude“ singen ließen, haben ihm vielleicht gar nicht so unrecht getan.) Ist es verwunderlich, daß ein Mensch, der so etwas vermag, Atheist ist?

Schon in seinen frühesten Liedern findet sich jene geheimnisvolle Kraft, die ihn vor allen Komponisten zum Vollzug dieser Verwandlung befähigt. Sie manifestiert sich immer wieder als „Eigen-Sinn“ der Musik, die in der Umsetzung der Textvorlage metrische und intonatorische Archetypen zur Wirkung bringt, anstatt sich deklamatorisch an den Text anzuschmiegen. Wer je den Versuch unternommen hat, etwa ein Lied von Hugo Wolf in einer Instrumentalfassung zu spielen, weiß, wie sehr der ganz aus der Sprache empfangene Geist dieser Musik sich gegen eine solche Beraubung sträubt. Daß das gleiche Experiment uns bei Brahms durchaus lebenskräftige und unentstellte Musik beschert, hat er uns schon in seinen Selbstzitaten bewiesen. Die oft kommentierten „Schwächen“ und „Mängel“ vieler von Brahms vertonter Texte, sind ganz sicher weder Ausdruck von Sorglosigkeit noch auch von schlechtem Geschmack – sie zeugen vor allem von der autonomen Kraft seiner Musik, die nur die Anregung durch ein Sprachbild sucht, das danach ruft, verwandelt zu werden.

 

Je weiter Brahms auf seinem Weg fortschreitet, umso vollendeter gelingt ihm diese Verwandlung. Zuletzt stehen wir vor einem Gewebe, das nichts als reinste Musik ist und doch die ganze Welt in sich trägt. Nicht zufällig hat Hull gerade in der Vierten Symphonie für seine beeindruckende und materialreiche Studie[xxviii] ein so fruchtbares Forschungsfeld gefunden. Die hier bewahrten Echos und Erinnerungen haben das wie immer auch berührend Anekdotische, das die Zitate der Jugendwerke noch preisgaben, weit hinter sich gelassen. Die zahlreichen „Clara“-Bezüge dieser Symphonie evozieren wohl nicht mehr das Bild der Geliebten, sondern sind selbst Musik gewordene Liebe. Die Zauberfäden dieses Gewebes bedürfen nicht mehr der Benennung, und sie umhüllen keinen Fremdkörper – sie sind eine in sich selbst schlüssige Botschaft.

 

[i]           siehe z.B. Reinhard Schulz, „Das Zitat als Ausweg: Zur Überwindung der Sprachlosigkeit in der Neuen Musik mit Hinweisen auf B. A. Zimmermanns Musique pour les soupers du roi Ubu.“ in Festschrift. Rudolf Bockholdt zum 60. Geburtstag. Pfaffenhofen 1990.

[ii]          Zofia Lissa, „Ästhetische Funktionen des musikalischen Zitates“, in Die Musikforschung XIX (1966), S. 165-167.

[iii]          Kenneth Ross Hull, Brahms the allusive: Extra-compositional reference in the instrumental music of Johannes Brahms. Princeton University 1989, S.60ff.

[iv]          Das Lied (auf ein Gedicht von Eichendorff) evoziert in Textur, Tonfall und Tonart (a-moll) Schumann, der für Brahmsens Eichendorff-Rezeption entscheidend war.

[v]           Richard Wagner, „Über das Dichten und Komponieren“ (1879). Zitiert nach: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Leipzig, s.a. (6. Auflage), Band X, S. 148.

[vi]          ibidem S. 150.

[vii]         Schumann arbeitete an seinen eigenen (zweihändigen)Variationen über dieses Thema vom 17. bis zum 27. Februar 1854.

[viii]         Clara Schumann – Johannes Brahms. Briefe aus den Jahren 1853 – 1896. Im Auftrage von Marie Schumann herausgegeben von Berthold Litzmann. Leipzig 1927, Bd. I, S. 411.

[ix]          Robert Schumann, Tagebücher. Band I, 1827 – 1838. Herausgegeben von Georg Eismann. Leipzig, 1971, S. 150f.

[x]           Neben Friedrich Wieck ist auch der Cellist Andreas Grabau zugegen, der 1848 in der Uraufführung von Schumanns Klaviertrio op.63 spielte und dem Schumann dann 1851 seine Fünf Stücke im Volkston op.102 widmen sollte. Die Anwesenheit des umtriebigen Verlegers Heinrich Albert Probst, der mit fintenreicher Beharrlichkeit Schuberts Klaviertrio Es-Dur op.100 (D 929) für seinen jungen Verlag hatte erwerben können und nun das eben im Druck erschienene Werk mit Vaterstolz in die Leipziger Musiksalons einführte, ist ein humoristischer Kontrapunkt („von hinten u. von vorne“) zur geistigen Gegenwart Schuberts – und läßt uns an die beißende Verspottung der Verleger denken, die Wagner ein halbes Jahrhundert später zum Kernpunkt seines oben zitierten Aufsatzes machte.

[xi]          Hingegen ist die Deutung, die Wolfgang Boetticher in der Einführung der von ihm offenbar unter ungünstigen Bedingungen und in größter Eile besorgten Erstveröffentlichung des Klavierquartetts (Wilhelmshaven 1979) einem Tagebucheintrag vom 30. Jänner 1830 (l. c., S.223) gibt – Boetticher spricht von einer „kammermusikalischen Krise“ –, offensichtlich eine für dieses Thema nicht atypische Fehl- und Überinterpretation: das „verunglükte Schub.[ertsche] Trio“, von dem Schumann da berichtet, ist ganz sicher kein Kompositionsversuch, sondern eine wohl wegen der zuvor genossenen Getränke („Rüdesheimer, […] Champagnerpunsch“) mißglückte Aufführung von Schuberts op.100.

[xii]         also Zitate, die nicht so sehr Ausdruck und Produkt eines Gewebes von Querbezügen, sondern eine reflexhafte Anverwandlung bestehender Modelle sind. Dabei ist es an diesem Punkt unserer Überlegungen ohne Belang, ob Brahms diese Modelle wahrscheinlich bewußt (wie z.B. bei dem, den rhythmischen und gestischen Duktus des Incipits von Beethovens op.106 aufnehmenden, Anfang der Klaviersonate op.1) oder eher unbewußt (etwa in der bis zum Überdruß nachbeschworenen Meistersinger-Reminiszenz zu Beginn der Violinsonate op.100) zitiert.

[xiii]         in Brahms als Liedkomponist. Studien zum Verhältnis von Text und Vertonung (Hrsg. Peter Jost). Stuttgart 1992, S. 39.

[xiv]         Zu diesem Fragenkomplex vgl. z. B. Sabine Schutte, „Nationalhymnen und ihre Verarbeitung. Zur Funktion musikalischer Zitate und Anklänge“ in Das Argument, 1976, S.208-217.

[xv]          Es mag wirklich sein, daß die von Schubert, Schumann und Brahms verwendeten Strategien der musikalischen Anspielung sich schon früher manifestiert haben, und unsere mangelnde Kenntnis dieser Erscheinungen ein Defizit der Forschung ist (wie Hull, op. cit., S.25, Anm. 2, meint). Doch spiegelt das Interesse der Musikwissenschaft an der Entwicklung des Phänomens gerade bei diesen Komponisten sicher auch den Umstand wider, daß es erst hier eine neue Qualität gewonnen hat.

[xvi]         Rufus Hallmark, „Schubert´s Auf dem Strom“ in Schubert Studies. Problems of Style and Chronology. Eva Badura-Skoda (Hg.), Cambridge 1982, S.25-46.

[xvii]        Diese Zitate sind weder „plakativ“ noch „hermetisch“; sie machen in der Regel eine im Lied gefundene Formulierung zum Ausgangspunkt einer variierenden Fortspinnung und Erweiterung: D 667/4 nach D 550 (Die Forelle), D 760/2 nach D 493 (Der Wanderer), D 802 nach D 795/18 (Trockene Blumen), D 810/2 nach D 531 (Der Tod und das Mädchen), D 934 nach D 741 (Sei mir gegrüßt).

[xviii]        Die Beharrlichkeit, mit der Schumann zu diesem Thema zurückkehrt, läßt das Friedrich Schlegelsche Motto der Fantasie in eigenem Licht erscheinen:

„Durch alle Töne tönet
Im bunten Erdentraum
Ein leiser Ton gezogen
Für den, der heinlich lauscht.“

[xix]         Hermann Kretzschmar in Grenzboten 1884 (in Buchform: Das deutsche Lied seit Schumann. Leipzig 1910)

[xx]          Hull, op. cit. S.238-239.

[xxi]         Hull, op. cit. S.210.

[xxii]        Die Beweggründe für die Neukomposition des ersten Satzes wären gesondert zu erörtern. In diesem Satz hatte Brahms schon 1871 für die Wiener Erstaufführung des Werkes wesentliche Kürzungen vorgenommen.

[xxiii]        Von der „Entsprachlichung musikalischer Phänomene“ spricht auch Siegfried Mauser in seinem Beitrag „Zum Sprachcharakter in der Neuen Musik“ (ÖMZ XLIX/6, 1994, S.364.) Daß der Vorgang bei Brahms seinem Wesen nach ganz anderer Natur ist als der hier konstatierte, muß wegen der andauernden Faszination von Brahms the progressive betont werden.

[xxiv]        Rainer Maria Rilke, Neunte Duineser Elegie.

[xxv]         Günther von Noé, Die Musik kommt mir äußerst bekannt vor. Wege und Abwege der Entlehnung. Wien, 1985, S.51.

[xxvi]        „Meine Lieder“ von Adolf Frey

[xxvii]     „Träumerisch“ durchaus im wörtlichen Sinn: Das Zitat ist, wenn es die Sphäre des Anekdotischen und Dekorativen verläßt, seinem Wesen nach dem Traum vergleichbar. Vgl. dazu Christopher Ballantine, „Charles Ives and the Meaning of Quotation in Music“ in The Musical Quartertly, LXV (April 1979), S.169f.

[xxviii]       Hull, op. cit. S. 95-231.

An die nahe Ungeliebte

Lichtwark_Alfred

Aus der Fülle der Ungerechtigkeit, mit der die europäische Menschheit des neunzehnten Jahrhunderts ihre führenden Geister überschüttet hat, wird sich wie an einem Experiment nachweisen lassen, daß die Fähigkeit des originellen Urteils ebenso selten vorhanden ist wie die Gabe der originellen Produktion, und daß in der Regel nicht einmal Klarheit herrscht über das Wesen des Urteils in künstlerischen Dingen (…) Wer die bekannten und oft gehörten Wendungen in den Mund nimmt: Vom Künstler verlange ich, der Künstler soll, der Künstler muß, – der beweist damit nur, daß er keine Ahnung hat, wie das Kunstwerk entsteht. Mit solchen Forderungen mag er dem Handwerk gegenübertreten, das ihm dient, er mag sie vor der breiten Masse der künstlerischen Produktion erheben, der Marktware, die einem vorhandenen Bedürfnis entgegenkommt. Nach der Kunst des Genies hat kein Mensch auf der Welt Bedürfnis, ehe sie da ist, außer dem einen, der sie erzeugt.

Alfred Lichtwark, Die Seele und das Kunstwerk (1902)

Diese zu Beginn unseres Jahrhunderts gemachten Bemerkungen, dürfen mutatis mutandis – also etwa: indem man „neunzehntes“ durch „zwanzigstes“ ersetzt – auch an seinem Ende wiederholt werden. Vielleicht sind sich heute, nachdem uns das zur Neige gehende Jahrhundert eine nie zuvor gekannte Überfülle an Ismen und damit an sich immer ändernden Wertmaßstäben und Beurteilungskriterien beschert hat, mehr Menschen der mit jedem künstlerischen Urteil verbundenen Risiken und Unsicherheiten bewußt, und die Ungerechtigkeiten, die wir in dieser Hinsicht heute zu begehen bereit sind, haben daher etwas von ihrer Heftigkeit eingebüßt – zumindest zwischen zivilisierten Menschen, die nicht gerade an der Eroberung politischer Mandate mithilfe von Bierzeltparolen arbeiten.

In unseren Konzertsälen ist bei der Aufführung zeitgenössischer Musik die Leidenschaft von Ablehnung und Zustimmung, wenn es sich nicht um Fälle kommerziell verordneter Ekstase handelt, einer wohltemperierten Allerweltsartigkeit gewichen, die den Komponisten recht oft im Unklaren darüber läßt, ob sein Werk nun auf teilnehmende oder taube Ohren gestoßen ist. Wenige Tage vor der Uraufführung seiner Rythmes für Orchester schreibt Frank Martin einem Freund:

„Dabei muß ich noch froh sein, wenn man mich auspfeift, das wäre ein Erfolg; hingegen der trübe Schleier der Gleichgültigkeit, der sich langsam auf ein unbekanntes Werk niedersenkt!“

(an André Berge, 7. Dezember 1929)

So besehen sollten auch wir vielleicht stellvertretend für die Komponisten über jene langjährigen Abonnenten froh sein, die uns angesichts des diesjährigen Programms den Rücken gekehrt haben – das ist zwar etwas weniger leidenschaftlich als das Auspfeifen, aber doch immer noch einen deutlichen Schritt von der Gleichgültigkeit entfernt.

Der Gleichgültigkeit folgt die Verachtung. Das apodiktische Urteil „Des is ka Kunst!“ hat die Kunst unseres Jahrhunderts in allen Schattierungen, vom leidenschaftlich empörten Schlachtruf bis zum verächtlichen Stammtischrülpser, getreulich begleitet.

Obwohl uns allen die unmittelbare Vergleichsmöglichkeit fehlt, haben wir wohl nicht ganz ohne Grund das Gefühl, es sei noch keine der uns rekonstruierbaren Epochen der Menschheitsgeschichte mit ihrer eigenen Kunst so zerfallen gewesen wie die unsere. Die Ratlosigkeit, mit der manchmal auch willige und aufgeschlossene Besucher ganze Saalfluchten unserer Museen schlechten Gewissens durcheilen, ist ein bedenkliches Symptom. Gewiß, das Neue, Ungewohnte und Unerhörte hat immer eine Weile gebraucht, bevor es zum vertrauten und sanktionierten Kulturgut werden konnte. Wenn aber Schönbergs „Erwartung“ noch drei Generationen nach der Uraufführung einen Exodus des Publikums provoziert, so ist diese Weile auf dem besten Wege, sich zur Ewigkeit auszuwachsen.

Über die Gründe und Hintergründe dieses Phänomens haben einige der brillantesten Köpfe unseres Jahrhunderts schreibend nachgedacht, und es wäre verwegen, diesen Gedanken hier noch etwas hinzufügen zu wollen. Klar ist wohl, daß die immer unerträglicher werdende Zeitspanne, die uns auf diese Weise von unserer eigenen Gegenwart zu trennen droht, nur durch eine bewußte Willensanstrengung überbrückt werden kann. Daß das geistige Vakuum, das sich zwischen dem vereinsamten Genie und seiner erholungs- und unterhaltungsbedürftigen Mitwelt auftut, vor allem dann ein Tummelplatz für die frechste Scharlatanerie zu werden droht, wenn auch das Genie in seiner Flucht vor den Zumutungen der Masse zur Provokation zu greifen gezwungen ist, sollte uns bei dieser Willensanstrengung zur Vorsicht mahnen, aber nicht lähmen. Der Kulturmarkt kann uns bei der Suche nach der Kunst unserer Zeit sicher keine Orientierung bieten; denn hier wird unterschiedslos alles, Aufschrei und Täuschung, Geschaffenes und Geraubtes, zu Schmieröl in der verläßlichen Maschinerie von Angebot und Nachfrage weiterverarbeitet. Der schöpferische Mensch unseres Jahrhunderts, der wie der aller vorangehenden ein Einsamer im Herbst ist, spricht zu uns durch die tosende Brandung einer immer lauter werdenden Zeit. Von seiner Rede hören wir nur einzelne zusammenhanglose Silben. Wir sollten versuchen, von seinen Lippen zu lesen.

Die Zumutungen, die das Publikum für den Künstler bereit hält – der Künstler soll, der Künstler muß –, sind rührende und harmlose Dummheiten im Vergleich zu jenen brutalen Zwängen, denen der Markt ihn unterwirft. Schon Brahms muß einen beträchtlichen Teil seiner Zeit der „Propagandaarbeit“ opfern: auf ausgedehnten und kräfteraubenden Tourneen widmet er sich der Vermarktung seiner künstlerischen Produktion. Es ist wichtig zu sehen (und würde viel zu weit führen, hier nachzuweisen), daß diese Konzertreisen sich nicht nur quantitativ, sondern auch ihrem Wesen und ihrer Funktion nach von denjenigen Mozarts grundlegend unterscheiden. Die künstlerische Produktion ist ein Wirtschaftszweig geworden, der keinen Anspruch auf Sonderbehandlung stellen darf. Die vielzitierte, aber wenig verstandene Argumentation von Adolf Loos in seinem Aufsatz ornament und verbrechen (1908) bringt diese Sachlage in enthusiastischer Offenheit zur Sprache:

„Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande. […] Das fehlen des ornaments hat eine verkürzung der arbeitszeit und eine erhöhung des lohnes zur folge. Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit. So war es immer. Heute bedeutet es aber auch vergeudetes material, und beides bedeutet vergeudetes kapital.“

Die praktische Funktionslosigkeit des Ornaments erscheint hier als eine läßliche Sünde, verglichen mit der Todsünde der Kapitalverschwendung: Erst in dieser Ideologie findet das Wort „Kapitalverbrechen“ seine innigste Bedeutung. Wenn aber der ästhetische Lustgewinn, den das funktionslose Ornament „primitiveren“ Kulturen und Menschen gewährte ( – Loos spricht mit der Nonchalance des europäischen Herrenmenschen von Kaffern, Papuas, Persern und, natürlich, von den Frauen – ), den Erfordernissen der Wirtschaftlichkeit geopfert werden muß, ist flugs Ersatz geschaffen:

„Wir haben die kunst, die das ornament abgelöst hat. wir gehen nach des tages last und mühen zu Beethoven oder in den Tristan.“

Loos würde sich wohl gehütet haben, nach des tages last und mühen zu Mahler, Schönberg, Ravel oder Skrjabin zu gehen, obwohl doch das seine engeren Zeitgenossen waren. Die Kunst darf – als legitimer Ersatz für das geächtete Ornament – der praktischen Funktionalität entraten, aber sie muß trotzdem eine klar umrissene Aufgabe im Räderwerk der Wirtschaft erfüllen: sie hat den im Dienste des Kapitals tätigen Menschen nach des tages last und mühen zu erbauen und zu unterhalten. Was der Lehrer des Nietzsche-Jüngers Loos zu diesem Konzept zu bemerken hatte, ist am Beginn der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung (1873) nachzulesen, wo Nietzsche über die „Kulturschaffenden“ schreibt:

„…denn dies ist doch ersichtlich eine zusammengehörige Gesellschaft, die sich verschworen zu haben scheint, sich der Muße- und Verdauungsstunden des modernen Menschen, das heißt seiner „Kulturmomente“ zu bemächtigen und ihn in diesen durch bedrucktes Papier zu betäuben.“

Wer es aber versteht, die Kunst als Betäubungsmittel einzusetzen, der darf getrost auf das sprichwörtliche Opiumsurrogat Religion verzichten. Die so dienstbar gemachte und gezähmte Kunst ist völlig gefahrlos und muß nicht einmal für Kinder unerreichbar aufbewahrt werden.

Die Kunst, die sich diesem Joch entziehen möchte, muß zwangsläufig immer tollere Capriolen schlagen, um der Versklavung zu entgehen. Der Dadaismus und alle seine Nachkommen sind die logische Antwort auf den totalitären Kapitalismus. Der zum Konsumenten mutierte Mensch, der über eine solche, ihn in seinen „Kulturmomenten“ irritierende Provokation stolpert, wird in reflexhafter Notwehr zur Wortkeule „Des is ka Kunst!“ greifen. Ist man erst einmal mit der ungebärdigen Kunst handgemein geworden, fällt es ganz leicht, sie mit der gehörigen Inbrunst zu hassen. Die aufdringliche und zählebige Ungeliebte, die uns mit ihren frechen Annäherungsversuchen verfolgt, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn wir uns angeekelt abwenden.

Daß in dieser Konstellation überhaupt noch Kunst entstehen kann, die mehr und anderes ist als Betäubungsmittel oder Provokation, ist schlicht ein Wunder, aber dennoch eine Tatsache, von der wir uns selbst und Sie an den nächsten fünf Abenden überzeugen wollen. Dieser Rückblick auf ein verkanntes Jahrhundert soll auch Abschied von einem ungeliebten Jahrhundert sein. Die Auswahl der hier aufgeführten Werke ist, wie jede denkbare, willkürlich und subjektiv. Doch alle sind sie legitime Kinder dieses unseres Jahrhunderts, und wie alle Kinder bedürfen sie unserer Liebe noch mehr als unseres Geldes. Vielleicht wird ein ferner Betrachter einmal auch unserem Bemühen um diese ungeliebten Problemkinder den rührend naiven Trost spenden dürfen, den Jeitteles und Beethoven für ihre Ferne Geliebte fanden:

Dann vor diesen Liedern weichet,
Was geschieden uns so weit,
Und ein liebend Herz erreichet,
Was ein liebend Herz geweiht.

Irrwege und Neue Bahnen?

Irrwege und Neue Bahnen?

Wenige Szenen der Musikgeschichte haben so nachhaltig die Phantasie des hörenden und schreibenden Publikums beschäftigt wie das Zusammentreffen zwischen dem Ehepaar Schumann und dem jungen Johannes Brahms. Das Erscheinen des jungen Genies im Hause an der Bilker Straße am 30. September 1853 mit allen anekdoten- und legendenhaften Details ist unverzichtbarer Bestandteil der biographischen Literatur rund um Robert, Clara und Johannes. Die an sich schon romanhaften Züge dieser Begegnung werden zum Ausgangspunkt von weit über Brahms´ ersten Düsseldorfer Aufenthalt hinausgehenden rhapsodischen Spekulationen. Die begeisternde Dreisamkeit im Hause Schumann, die das Bild weiternde F.A.E.-Episode mit Joachim und Dietrich, das Zusammentreffen mit Bettina und Gisela von Arnim, Joachims Liebe; Roberts Artikel „Neue Bahnen“; die Geschichte von Roberts Violinkonzert, der Besuch in Hannover bei Brahms und Joachim, Claras Eifersucht auf Wilhelmine Clauß… Allein in den Fakten steckt schon ein ansehnlicher Roman, wer wollte das leugnen?

SM_SMcDoch das zunächst unschuldige Spiel der Phantasie ist gefährlich. In einer 1990 erschienenen Biographie Clara Schumanns liest man – die Rede ist von der Heimreise der Schumanns aus Hannover am 30. Jänner 1854 – :

„Auf dieser Rückfahrt muß es zu einer furchtbaren Auseinandersetzung gekommen sein ­– das Finale einer Ehe. Vielleicht hatte Clara behauptet, Joachim sei nur zu vornehm gewesen, auszusprechen, was ihm überdeutlich im Gesicht gestanden habe, daß nämlich das Violinkonzert Spuren des Irrsinns erkennen lasse [,] und es für Robert Zeit sei, seinen Platz für Johannes Brahms freizumachen.“

Ay, there´s the rub!

Kurzentschlossen hat die Autorin Claras Stelle eingenommen, Claras Zweifel durch ihre eigene holzschnitthafte Überzeugung ersetzt. Ihre teleologische Ungeduld drängt auf einen möglichst raschen und gnadenlosen Machtwechsel: Le roi est mort. Vive le roi! Die Rollen sind klar verteilt: Es ist Saul und David, nicht etwa David und Abschalom; und nur eine unerwartet große Zurückhaltung der Autorin bewahrt uns davor, daß der schwermütige Schumann in kraftloser Abwehr einen Speer nach Brahms wirft.

BR_1853Schumann soll seinen Platz für Brahms frei machen. Man muß der Autorin für die Präzision dieses vulgärdarwinistischen Bildes dankbar sein. Schumann und Brahms haben darin nicht ihre eigenen Plätze, sondern sind Vorgänger und Nachfolger auf dem langen Weg, der – man ahnt es schon – von Perotinus Magnus zu Pierre Boulez führt. Nicht zufällig hat die neuere Schumannliteratur in ihrem Bemühen, das Spätwerk Schumanns zu „rehabilitieren“, immer wieder die Kompositionstechniken der Zweiten Wiener Schule zum Vergleich herangezogen: wenn sich in den letzten Werken Schumanns Vorahnungen dieser „fortschrittlichen“ Techniken aufspüren lassen, so das Kalkül, dann ist Schumanns Ehre gerettet, denn dannn hat er zur Weiterentwicklung der Musik auch dort beigetragen, wo er die Wirkung der „Träumerei“ verfehlt hat.

Je matter und kraftloser Schumann erscheint, desto erschütternder wirkt der Gruß, den er Brahms in den „Neuen Bahnen“ entbietet. Am besten macht man aus dem dreiundvierzigjährigen Schumann gleich den greisen Simeon und liest mit andächtiger Rührung: „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ Nichts würde der rührselig-theatralischen Stimmigkeit der Szene, die gut in den hagiographischen Kanon der Nazarener passen würde, mehr schaden als die unwillkommene Entdeckung, daß Meister Robert noch einen Weg vor sich hatte, als er entschied, ihn nicht mehr zu beschreiten.

Hier ist die Quelle einer der infamsten Legenden der Musikgeschichte: jener vom kontinuierlichen Verfall der schöpferischen Kräfte Robert Schumanns während seiner Düsseldofer Jahre. Felix Draesekes begierig aufgegriffenes Wort, Schumann habe als Genie begonnen und als Talent geendet, gibt dieser falschen Perspektive den richtigen Rahmen. Wie so oft hat auch im Falle Robert Schumanns die Biographie über das Werk gesiegt: das Bild des im geblümten Schlafrock an den ausgelassenen Karnevalsumzügen vorbei auf die Rheinbrücke eilenden Komponisten ist eben so einprägsam, daß Publikum und Interpreten in einmütiger Andacht kaum die Augen davon wenden können. Die Ohren scheinen dann nur mehr wahrzunehmen, was wir vor unserem geistigen Auge gesehen zu haben glauben – und da gibt es auch in der Musik plötzlich überall unübersehbare Spuren der herannahenden Katastrophe.

Nun soll freilich nicht geleugnet werden, daß es einen engen, ja unauflösbaren Zusammenhang zwischen Leben und Werk gibt. Aber dieser Zusammenhang läßt sich kaum je auf eine simple Widerspiegelung des Lebens im Werk zurückführen. Dem Leben des schöpferischen Menschen und der Gesellschaft, der er angehört, tritt im Werk des Künstlers eine Gegenwelt gegenüber, die ihre materielle und konkrete Basis niemals verleugnen, aber immer – denn das gehört zum Wesen und Ziel des Künstlerischen – hinter sich lassen kann. Es ist daher durchaus nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß die letzten Schaffensjahre Schumanns vor dem gesellschaftlichen Hintergrund einer gescheiterten Revolution und dem persönlichen einer fortschreitenden Krankheit ablaufen; aber es ist unsinnig (um nicht zu sagen: verbrecherisch), Schumanns nach 1849 entstandene Werke als melancholisch-resignative Grisaillen eines seine Gestaltungskräfte schrittweise verlierenden Geisteskranken abzutun.

Daß dieser Unsinn so beharrlich vertreten wird ­– in den letzten Jahrzehnten immer wieder auch von Schumann-„Apologeten“ – hängt mit der verzeihlichen Unfähigkeit von Schumanns Zeitgenossen zusammen, die kompositorische Entwicklung seiner letzten Schaffensjahre nach Wesen und Bedeutung zu erfassen. Clara, die zuletzt auch vor der Vernichtung von ihr mißlungen erscheinenden Spätwerken nicht zurückschreckte ( – 1893 verbrannte sie Schumanns letztes Kammermusikwerk, die Anfang November 1853 komponierten Fünf Romanzen für Violoncello und Klavier – ), ist an der Rezeptionsmisere sicher nicht unbeteiligt. An ihrem Beispiel läßt sich aber auch recht gut erkennen, wie sehr die Kenntnis der Lebensgeschichte auf die Beurteilung des Werkes abfärbt: Als sie im November 1851 die eben entstandene monumentale zweite Violinsonate (d-moll, op.121) kennenlernt, findet sie sie „von einer wunderbaren Originalität und einer Tiefe und Großartigkeit, wie ich kaum eine andere kenne, – das ist wirklich eine ganz überwätigende Musik.“ Dreißig Jahre später, bei der Lektüre von Philipp Spittas 1882 erschienener Schumann-Biographie, notiert sie, trotz ihrer Einwände gegen Spittas pauschal negative Bewertungen: „…der erste Satz der D-moll-Sonate hat etwas rhythmisch Peinliches.“

So konnte und mußte das Bild entstehen, Schumann habe sich selbst, während er die „Neuen Bahnen“ seines jungen Freundes segnete, heillos im dürren Gestrüpp grüblerischer Unfruchtbarkeit verrannt; der Eichendorffsche Fernen verheißende Waldweg, auf dem seine alte Bahn verlaufen war, habe sich nach und nach im weglosen Unterholz verloren. Kaum ein Schumannbuch, in dem einem nicht, vereinzelt oder summarisch, Andeutungen und Urteile dieser Art begegnen. Dabei gibt es ein einfaches (und heute leichter denn je anzuwendendes) Mittel, diese Sicht kritisch zu überprüfen: man höre sich alle Kompositionen jener „Zeit, wo Schumann´s Werke die verhängnißvolle Zahl 100 überschritten hatten“ (Hanslick), aufmerksam und unvoreingenommen an – und urteile dann, ob das wirklich nur die Spur eines Verirrten ist, oder ob sich hier nicht vielleicht ein noch unbeschrittener Weg öffnet.

Muß man wirklich in die Irre gegangen sein, um im Irrenhaus zu enden?