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Brahms – Trio op. 101

Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897

Trio Nr. 3, c-moll, op. 101

komponiert: Thun, Sommer 1886

Uraufführung: Budapest, 20. Dezember 1886
Johannes Brahms, Klavier
Jenö Hubay (1858-1937), Violine
David Popper (1843-1913), Violoncello

Erstausgabe: Simrock, Berlin, April 1887

Mit Brahms´ drittem Klaviertrio ist in der Entwicklung des Genres ein kritischer Punkt erreicht. Die äußerste Konzentration und Verdichtung, die hier verwirklicht ist, war nicht mehr zu überbieten. Die Nachfolger konnten, sofern sie das Brahmssche Paradigma überhaupt vor Augen hatten, nur den Weg zum episch-symphonischen Klaviertrio gehen, wie ihn etwa Pfitzner und Reger beschritten, oder aber sich, wie Ives und Ravel, auf die Suche nach Neuland machen.

„Es ist besser als alle Photographien und so das eigentliche Bild von Ihnen.“ schwärmt Elisabeth von Herzogenberg (9./10. Jänner 1887), während sie schweren Herzens die Partitur einpacken läßt, um sie an Brahms zurückzuschicken. Zu Silvester hatte sie das Stück mit Joseph Joachim und Robert Hausmann ein erstes Mal durchspielen können (wobei man sich mit einer Partitur behelfen mußte, da Brahms keine Stimmen mitgesendet hatte). Ihre erste Reaktion in dem oben zitierten Brief ist so schlicht und erschöpfend, daß sie uns eigentlich der Mühe weiterer „Erläuterungen“ entheben sollte:

„…Diesen neuen Stücken gegenüber käme es mir noch lächerlicher als gewöhnlich vor, wenn ich armer Floh mich hinsetzen wollte, meine Eindrücke zu „motivieren“ und Ihnen sagen zu wollen, warum, was Sie gemacht haben, so schön ist! Und ich könnte es nicht mit Überzeugung tun; denn ich glaube und bekenne, daß es nicht an diesem und nicht an jenem liegt, warum diese Musik so besonders geraten ist, sondern weil der heilige Geist es eben besonders gut mit Ihnen meinte. Etwas, wie dieses Trio, in allen Teilen so vollendet, so leidenschaftlich und so maßvoll, so groß und so lieblich, so knapp und so beredt, ist überhaupt wohl selten geschrieben worden, und mich dünkt: Sie selber müssen ein Gefühl gehabt haben, als Sie den letzten Takt schrieben, wie etwa Heinrich der Vogler, wenn er betet: »Du gabst mir einen guten Fang, Herrgott, ich danke Dir!«…“

Auch Clara Schumann schreibt nach der ersten Bekanntschaft mit dem „wunderbar ergreifenden“ neuen Werk: „Noch kein Werk von Johannes hat mich so ganz und gar hingerissen.“

Ganz ähnlich muß der Dichter Joseph Viktor Widmann (1842-1911) empfunden haben, in dessen Berner Haus das Werk noch im Sommer 1886, unmittelbar nach seiner Fertigstellung, zum allerersten Mal erklang – Brahms spielte es dort mit den Brüdern Friedrich und Julius Hegar. Bei dieser Leseprobe scheint es jedenfalls  friedlicher zugegangen zu sein als bei jener, die der Wiener Erstaufführung (26. Februar 1887) vorausging und über die Max Kalbeck berichtet:

„…Obwohl Geiger [Robert Heckmann] und Violoncellist [R. Bellmann] ihre Stimmen vorher durchgesehen hatten, wurden sie doch von Brahms und der genialen Ungebundenheit seines Spiels so außer Fassung gebracht, daß sie ihm nur mühsam nachkamen und kaum selbständig hervortraten. Das Werk blieb ihnen fremd, und sie begriffen es um so weniger, als Brahms nicht die geringste Rücksicht auf sie nahm. Er schien die Bekanntschaft mit der Novität vorauszusetzen und ärgerte sich, daß die überraschten und verblüfften Mitspieler fast völlig versagten. Nach dem ersten Satz beging Heckmann die Unvorsichtigkeit, zu fragen, ob der Meister zufrieden sei oder es anders wünsche. Er erwiderte höhnend in gereiztem Tone: »Ja, sehr!« und fing sofort den nächsten Satz an. Im f-moll-Teile stolperten Violine und Violoncell, die den Einsatz verpaßten, und die Pizzicati mißglückten bei dem rasenden Tempo, das Brahms genommen hatte, jedesmal. Seine Ungeduld steigerte sich immer mehr, und man sah ihm an, wie es in ihm kochte. Nach dem letzten Akkord sprang er auf, schleuderte dem Konzertmeister ein paar heftige Worte zu: »So kommt man nicht zur Probe!«, war durch nichts zum Dableiben zu bewegen, sagte meiner Frau und mir Adieu, würdigte seine niedergedonnerten Mitspieler keines Blickes mehr und stürmte fort…“

Wenn man sich diese Szene vergegenwärtigt und dabei daran denkt, daß dieses Trio Brahms besser porträtiert als alle Photographien, so wird man beginnen, auch die grimmigeren Töne des Werkes zu verstehen.

Sicher hat Elisabeth von Herzogenberg den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn sie feststellt, daß „es nicht an diesem und nicht an jenem liegt, warum diese Musik so besonders geraten ist.“ Es ist daher, so verlockend und lohnend es auch erscheint, gar nicht unbedingt notwendig, den motivischen und gedanklichen Querbezügen nachzuspüren, die aus den vier Sätzen dieses Werkes ein so zwingendes Ganzes machen. Überall wird man die gleiche Kraft der Verdichtung finden, unter deren Druck alle Ideen sich in ihrer reinsten Form kristallisieren – der Gedanke an gebirgsbildenden Naturgewalten wird in den Außensätzen, Allegro energico und Allegro molto, schon durch das Klang- und Notenbild nahegelegt. Nur im Schutz dieser mächtigen Ecksätze kann das  Mysterium der beiden Innensätze – des phantomhaften Presto non assai und des unschuldigen Andante grazioso – unversehrt bewahrt werden.

Es gibt gar keinen Zweifel: Dieses kürzeste aller großen Klaviertrios des XIX. Jahrhunderts, „bei dem man“ – um noch einmal Elisabeth von Herzogenberg sprechen zu lassen – „am Schluß nur einmal Mangel empfindet, weil es da aus ist und man noch mehr davon haben wollte“, braucht und duldet keine Einführung.

© Claus-Christian Schuster

Mendelssohn – Trio op. 66

Felix Mendelssohn
* Hamburg, 3. Februar 1809
† Leipzig, 4. November 1847

Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell Nr. 2, c-moll, op. 66

komponiert: Frankfurt am Main, Februar bis April 1845

Widmung: Louis Spohr (1784-1859)

Uraufführung: Leipzig, Gewandhaus, 20. Dezember 1845 (Zweite musikalische Abendunterhaltung)
Felix Mendelssohn, Klavier
Ferdinand David (1810-1873), Violine
Carl Wittmann (1810-1860), Violoncello

Erstausgabe: Breitkopf & Härtel, Leipzig, Februar 1846

Seit Mendelssohn sich 1841 von  den „brillantesten und vorteilhaftesten Anerbietungen“ des neuen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin hatte locken lassen, sah er sich vor Aufgaben und Belastungen gestellt, die wohl auch eine robustere Gesundheit als die seine unterminiert hätten. Im ehrgeizigen Bemühen, seinen in München regierenden Schwager Ludwig I. zu übertrumpfen und Berlin zu der Kulturmetropole des deutschsprachigen Raumes zu machen, hatte Friedrich Wilhelm IV. mit recht diffusen  Versprechungen eine ganze Pleiade großer Namen nach Berlin rufen lassen; um die Durchsetzung seiner hochfliegenden und unausgegorenen Projekte konnte und wollte sich der Monarch freilich nicht kümmern. Schon wenige Wochen nach der Annahme des königlichen Angebots schreibt Mendelssohn ernüchtert über seine neue Wirkungsstätte nach London:

„Dort gehört ein Mann hin, der die Anfangsgründe erst wieder erweckt; der 10 – 15 Jahre lang wieder belebt, was 20 bis 25 Jahre lang totgeschlagen worden ist, systematisch; dann kann sich ein Musiker wieder dort behaglich fühlen, ohne jene Vorarbeit nicht. Die zu unternehmen habe ich weder Lust noch Beruf. Hätte ich das so vorher gewusst, wie ich es in der 3. Woche des vergangenen Monats mit eigenen Augen gesehen habe, so würde ich von vornherein nicht 2 Briefe gewechselt, sondern alles rund von der Hand abgewiesen haben. Da das nicht geschehen war, so ist die kürzeste Zeit, mit der ich abkommen kann, ein Jahr…“

(an Karl Klingemann, 16. Juni 1844)

Nachdem diese „kürzeste Zeit“ verstrichen war, unternahm Mendelssohn auch wirklich einen ernsthaften Versuch, sich von Berlin zu lösen. Doch der König beantwortete die Kündigung Mendelssohns mit einem Dekret, durch das er ihn zum Preußischen Generalmusikdirektor ernannte. Zwar waren von nun an seine Aufgabenbereiche ein wenig genauer umrissen, was Mendelssohn vor allem den Freiraum gab, den er für seine Leipziger Pläne – den Aufbau eines Konservatoriums – brauchte; aber seine Berliner Stellung blieb trotzdem eine ungeliebte Bürde. Erst im Oktober 1844 gelang es ihm, sich aus dieser mißlichen Lage zu befreien. Für die endliche Durchführung dieses diplomatisch schweren Schrittes war wohl auch die Erfahrung ausschlaggebend, die Mendelssohn im Sommer 1844 gemacht hatte: In zwei unbeschwerten Ferienmonaten, die er nach der Rückkehr von seiner siebenten Englandreise in Bad Soden im Taunus verbrachte, erlebte er nach langer Zeit wieder schöpferisches und familiäres Glück. „Das Sodener Leben, Essen und Schlafen ohne Frack, ohne Klavier, ohne Visitenkarten, ohne Wagen und Pferde, aber auf Eseln, mit Feldblumen, mit Notenpapier und Zeichenbuch, mit Cécile und den Kindern,“  im vertrauten Umgang mit den Dichterfreunden Nikolaus Lenau, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Ferdinand Freiligrath – dieses andere Leben bescherte ihm und uns das herrliche Violinkonzert, das Ferdinand David am 13. März 1845 im Leipziger Gewandhaus uraufführen konnte.

Unmittelbar nach diesen glücklichen Sommermonaten hatte Mendelssohn seine Familie in Frankfurt zurückgelassen und war allein nach Berlin gereist, um sich „auf möglichst freundliche Weise aus den dortigen Verhältnissen herauszuwickeln.“  Die dort erreichte weitgehende Entbindung von seinen Verpflichtungen empfand er als großes Glück: „…seitdem ich diese Kabinets-Ordre in Händen habe, ist mir wahrlich, als könnte ich seit langer Zeit zum erstenmal wieder frei und mit gutem Gewissen atmen.“
(an Karl Klingemann, 5. November 1844)

Als Mendelssohn dann Anfang Dezember wieder in Frankfurt eintraf, fand er seinen gerade eineinhalbjährigen Sohn Felix lebensgefährlich erkrankt. Wie durch ein Wunder besserte sich nach einigen bangen Tagen der Zustand, „und bleibt es so, so können wir wieder frei atmen, so erhält uns Gott das Kind, oder vielmehr er schenkt es uns von Neuem! Du kannst Dir denken, welch ein Wiedersehn, welch traurige Tage das waren! Denk Dir also, wie wir Gott jetzt für so viele heitre tröstliche Stunden danken!“
(an Karl Klingemann, 17. Dezember 1844)

Aber auch Mendelssohn selbst war nach den übermenschlichen Anstrengungen der zwischen Berlin, Leipzig und London geteilten Jahre geschwächt. Am 25. Jänner 1845 heißt es am Schluß eines Briefes an den Verleger Julius Kistner: „Ich muß diesen Brief diktieren, weil ich seit 14 Tagen bettlägerig wurde, und jetzt, obwohl ganz in der Besserung, doch noch nicht im Stande bin, die Feder selbst zu führen.“  Drei Wochen später, kurz nach seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, berichtet er Klingemann, daß „die Erkältung oder der Katarrh oder wie man es sonst nennt, doch noch nicht gewichen“ sei. „Ich habe wieder mit Husten und Krächzen eine Woche das Zimmer hüten müssen, und sitze noch darin, und Marie und Paul [die beiden ältesten Kinder, damals sieben und fünf Jahre alt] krächzen ein Trio mit mir…“

Wenn aus diesen Zeilen schon wieder ungebrochener Lebensmut und Optimismus klingt, so hat das wohl vor allem damit zu tun, daß Mendelssohn in der Zwischenzeit doch schon wieder im Stande ist, „die Feder selbst zu führen“und daß das Husteterzett mit den Kindern nicht das einzige Trio ist, von dem er seinem Freund berichten kann. Mit der allmählichen Genesung der Familie und dem Nahen des Frühlings wächst das C-moll-Trio heran, das sich über weite Strecken wie eine tönende Chronik dieser Tage anhört. Ganz sicher vermeinen wir die Bilder dieses Briefes an die Schwester in unserem Trio wiederzufinden:

„Wenn Ihr aber keinen Eisgang in Florenz habt, so müßt Ihr uns beneiden, statt umgekehrt; denn das ist ein herrliches Schauspiel, wie das Wesen hier unter der Brücke sprudelt, und springt und stürzt, und die großen Blöcke und Scheiben durcheinanderwirft, und sagt: packt euch, mit euch ist es für´s Erste vorbei! ´s feiert auch seinen Frühlingstag und zeigt, daß es unter der Eisdecke noch Kraft und Jugend behalten hat, und läuft noch einmal so schnell und springt noch einmal so hoch als in den vernünftigen Tagen anderer Jahreszeiten…“

(an Rebecka Dirichlet, 25. März 1845)

Es sind die ins Kämpferische und Hoffnungsvolle gekehrten Bilder der Winterreise, in der ja die von Mendelssohn für sein neues Trio gewählte Grundtonart c-moll auch schon eine wichtige Rolle spielt (Erstarrung, Rast, Der greise Kopf, Die Krähe).

Mitte April ist die Komposition abgeschlossen. An Fanny schreibt Felix am 20. April:„Das Trio ist ein bißchen eklig zu spielen, aber eigentlich schwer ist es doch nicht. Suchet, so werdet Ihr finden!“  Zur Probe aufs Exempel wird Ferdinand David, der gerade auf der Rückreise vom Düsseldorfer Musikfest durch Frankfurt kommt, das neue Opus vorgesetzt. Und dem Jugendfreund Eduard Devrient schreibt Mendelssohn, ganz im Nachklang der Gefühle und Gedanken, denen das Trio sein Leben verdankt:

„…Über die pelzigen Kastanienknospen habe ich bereits wieder sehr viel nachgedacht, aber ich verstehe es doch noch immer nicht ganz: wie so ein Baum wächst. Die Naturgeschichte erklärt es, ebenso gut wie der Generalbaß die Musik. In letzterer bin ich fleißig und habe zum ersten Mal seit langer Zeit das Glück, recht ruhig leben und arbeiten zu können – was das für ein Glück ist, lerne ich jetzt erst recht einsehen; wenn man nicht bloß eine freie Stunde oder dann und wann einen freien Tag, sondern eine ganze Reihe freier Tage zur Arbeit vor sich hat, dann kommt erst das rechte Vergnügen (an der Arbeit sowohl wie an den Tagen) und ich kann an meiner Musik und an Frau und Kindern, und an mir erst dann so rechte Freude haben, wenn die Freude ohne Hetze ist, wie hier jetzt.

So habe ich denn mancherlei Neues gemacht, zuletzt ein Trio für Piano mit Violine und Baß…“

(26. April 1845)

Die in der Chronik dieser Monate anklingenden Leitmotive – Bedrängnis und Rettung, das Erwachen und Leben der Natur, der Kampf der Jahreszeiten, Gebet und Dank – durchziehen als tönend überhöhte Wirklichkeit alle Sätze dieses Meisterwerks.

Es sollte Mendelssohns letztes Kammermusikwerk mit Klavier bleiben – und wer sich von der schulmeisterlichen Besserwisserei der beamteten Musikwissenschaft nicht beeindrucken läßt, wird es gerne als die würdige Krönung dieser Gattung im Mendelssohnschen Œuvre anerkennen. Jener Typ von Analytiker freilich, der meint, seine Einsicht in den Urgrund der Dinge am besten dadurch erweisen zu können, daß er bald gönnerhaft, bald streng Zensuren verteilt, freut sich, an unserem C-moll-Trio einen besonders verlockenden Reibebaum gefunden zu haben. Die Mendelssohnsche Aufforderung: „Suchet, so werdet Ihr finden!“  wird hier auf eine ganz eigene Weise verstanden. Vor allem das Finale hat es diesen strengen Richtern angetan: Da ist bald von einem „formalen Desaster“ (Frieder Reininghaus), bald von „Misere“ und „Fehldisposition“ (Mathias Thomas) die Rede, das Hauptthema sei vollends „abgenutzt“ und überhaupt nicht „finalkräftig“ (derselbe). Auch bei den anderen Sätzen wird nicht mit Kritik gespart, wobei je nach Geschmack und Laune des Schreibers einmal der eine, dann der andere Satz unter dem Niveau der übrigen Sätze sein soll. Ohne sich mit solchen Details aufzuhalten, urteilt der Liverpooler Emeritus Basil Smallman (in einer wohlmeinend sollenden Besprechung der Klaviertrios) lieber gleich pauschal: „Mendelssohn conceived his structures more as fixed patterns than as living forms.“

Die Liste dieser intellektuell verbrämten Zumutungen ließe sich noch lange fortsetzen; doch Beachtung verdient dieses Phänomen eigentlich nur als schmerzlicher Beleg dafür, daß die seit Wagner gepflegte Diffamierung Mendelssohns auch dort Spuren hinterlassen hat, wo man es eigentlich nicht vermuten würde. (Wie verständlich der Wunsch Wagners war, die Spuren zu einer seiner wichtigsten Anleihequellen zu verwischen, soll hier gar nicht erst erörtert werden.)

Mit der Widmung seines zweiten Klaviertrios an Louis Spohr erfüllte Mendelssohn eine Dankesschuld: Spohr, um genau ein Vierteljahrhundert älter als Mendelssohn, hatte diesem 1843 sein einziges bedeutendes Klavierwerk, die Klaviersonate As-Dur op. 125, zugeeignet. Mendelssohn hatte damals geantwortet:

„Wüßte ich´s Ihnen nur ordentlich auszudrücken, wie tief ich´s empfinde, was das sagen will, eins Ihrer Werke auf diese Weise noch ganz besonders sein eigen nennen zu dürfen, und wie mich nicht allein die Auszeichnung sondern eben so sehr Ihr freundliches Erinnern, Ihr fortgesetztes Wohlwollen dabei so ganz von Herzen freut. Haben Sie tausend Dank dafür, lieber Herr Kapellmeister, und was ich von gutem Clavierspielen zusammen bringen kann, um mit meinen jetzt sehr widerhaarigen Fingern die Sonate recht schön herauszubringen, das soll redlich geschehen. Aber das ist wieder nur eine Freude, die ich mir selbst mache, und ich möchte so gern Ihnen eine dafür erwidern!“

Daß Mendelssohns Revanche dann so königlich ausfiel, entsprach ganz seinem Naturell. Spohr hatte noch die Freude, Ende Juni 1846, einige Monate nach der Drucklegung, das ihm gewidmete Werk zusammen mit seinem eigenen ersten Klaviertrio (op. 119) mit Mendelssohn in Leipzig spielen zu können  – unter den Zuhörern war damals auch Richard Wagner. Als Mendelssohn anderntags die Spohrs zur Bahn begleitete, war er, als die anderen Begleiter schon Abschied genommen hatten, „noch der Letzte, der bei anfangs langsamem Fortschreiten des Zuges noch eine ganze Strecke neben dem Wagen herlief, bis es nicht mehr anging, und seine freundlich glänzenden Augen waren der letzte Eindruck, den die Reisenden von Leipzig mitnahmen…“
(Louis Spohr, Selbstbiographie)

Der erste Satz (Allegro energico e con fuoco) gehört zu den vollkommensten kammermusikalischen Leistungen der deutschen Romantik: Wie hier, mit Instinkt und Inspiration, aber ebenso sehr mit handwerklicher Meisterschaft und durchdachter Disposition,  ein episch vielschichtiges Bild entworfen und ausgeführt wird, das trotz allen Detailreichtums konzis und einheitlich wirkt, kann nur bewundert werden. Ein etwas genauerer Blick auf die Exposition dieses Satzes mag zeigen, wie Mendelssohn diesen Eindruck organischer Einheitlichkeit erzielt. Über einen nur trügerische Sicherheit bietenden Orgelpunkt hastet das rastlos bewegte Hauptthema, das mit seinen flüchtigen Akkordzerlegungen und Skalenfragmenten auf den ersten Blick nur wie die vage Ahnung eines Kommenden wirkt; und doch sind hier schon alle motivischen Hauptelemente nicht nur des ganzen Satzes, sondern des ganzen Werkverlaufs in nuce gegenwärtig. Im melodischen Ductus und der metrischen Gestalt hat dieser Grundgedanke eine mehr als nur generische Verwandtschaft mit der (gleichzeitig mit dem Beginn der Arbeit an Mendelssohns erstem Klaviertrio im März 1839 in Rekordzeit niedergeschriebenen) Ouverture op. 95, die mit dem Kopfsatz unseres Trios auch die Tonart gemeinsam hat. (Wir wissen, daß sich Mendelssohn bei diesem für eine Aufführung von Victor Hugos „Ruy Blas“ komponierten Werk nur von seiner eigenen Phantasie leiten ließ – Hugos Stück fand er „so abscheulich und unter jeder Würde, wie man´s gar nicht glauben kann“…)

Die weitere Entfaltung dieser Hauptidee setzt gleich mit dem Ende der Eröffnungsperiode ein, in deren erweitertem Nachsatz sich der Orgelpunkt schon in eine fallende Baßlinie auflöst. Das Hauptthema wird jetzt gleichzeitig zu einer nervösen Begleitfigur zerstäubt (Verkleinerung im Klavier) und zu einer emblematisch punktierten Melodie gedehnt (paraphrasierende Vergrößerung in den Streichern – dieser melodische Keim läßt sich übrigens auf das posthum veröffentlichte Lied ohne Worte e-moll op. 102 Nr. 1 (MWV U 162) zurückverfolgen).  Das so etablierte Modell strandet aber sofort an einer auffallenden Kette von vier unmittelbar aufeinander folgenden Trugschlüssen; die sich daran schließende Wiederaufnahme der ursprünglichen Themengestalt treibt unaufhaltsam auf eine Stromschnelle zu, in der am Ende eines Abspaltungsprozesses das unmerklich veränderte Kopfmotiv mit mitreißendem Ungestüm in das sieghafte Seitenthema mündet. Vor der zwingenden Naturhaftigkeit dieses Vorganges wirkt das Wort „Seitenthema“ freilich recht fehl am Platz: Es ist kein neues Thema – vielmehr eine organische Metamorphose des Hauptsatzes, in dessen Spitzentönen ihre melodischen Umrisse schon verborgen lagen; und Mendelssohn erreicht, indem er die begleitende Klaviertextur beibehält, eine ungebrochene Kontinuität zwischen den beiden Formteilen. Diesem in Es-Dur stehenden Seitensatz, der bei seiner Fortspinnung zunehmend nachdenkliche Züge bekommt, folgt eine Rückkehr zu einer kanonischen Variante der Ausgangsgestalt in der Molldominant (g-moll) und eine erweiterte Wiederholung des allerersten Entwicklungsabschnittes, der – unter beharrlicher Beibehaltung der Molldominante – zu einer recht deutlich an den Kopfsatz des G-moll-Klavierkonzertes (op. 25) anklingenden Schlußformel führt; hier endlich wird der im ersten Verarbeitungsschritt zutage getretene punktierte Rhythmus zum unumstrittenen Hauptprotagonisten. Der bis hierher eroberte Tonraum (c-moll – Es-Dur – g-moll) demonstriert die Stärke der Haupttonart, denn die Nebentonarten können als auskomponierte Tonstufen des C-moll-Dreiklanges gedeutet werden; außerdem antizipiert diese Disposition aber im Kleinen die tonale Dramaturgie des ganzen Werkes (2. Satz – Es-Dur, 3. Satz – g-moll).

Wie wir gesehen haben, bedient sich die Exposition einer ganzen Reihe von Durchführungstechniken. Die Aufgabe der nun folgenden eigentlichen Durchführung ist daher nicht, die Möglichkeiten des motivischen Ausgangsmaterials dynamisch zu entwickeln, sondern vielmehr das schon entfaltete Material wieder zu bündeln, um den Weg zur Reprise freizumachen. Aus dem fragend und klagend wiederholten Nachsatz des „Seitenthemas“, mit dem die Durchführung eröffnet wird, entspinnt sich ein ergreifender Dialog zwischen den Streichern, in dessen Verlauf die Verwandtschaft zwischen „Haupt-“ und „Seitenthema“ gleichsam Generation für Generation zurückverfolgt und offengelegt wird, bis am Ende die wiedergefundene Urgestalt des Hauptsatzes den Eintritt der Reprise markiert, über dem das Klavier ein letztes Bruchstück des Seitenthemas wehmütig festzuhalten versucht. Dieser Moment übt – ganz ähnlich wie die analoge Stelle in der Endfassung des ersten Klaviertrios – in seiner kunstvollen Schlichtheit einen ganz besonderen Zauber aus; und als Folge dieser Verzauberung erscheint der weitere Reprisenverlauf auch merkwürdig verwandelt. Der Abschnitt vor dem Seitensatz ist gegenüber der Exposition um etwa die Hälfte gekürzt, die Bewegung bricht sich immer wieder an kleinräumigen Betonungen. Besonders eklatant ist der Unterschied zur Exposition beim Übergang zum Seitensatz: wo dort sich ein mächtiger Strom ins Meer ergoß, eröffnet sich hier ein unerwarteter Durchblick in die Ferne, aus der man das Cello das jetzt schon vertraute Thema intonieren hört. Von da an überwiegen wieder die Analogien zwischen Exposition und Reprise.  Erst die ausgedehnte Coda erweitert das Bild um eine ganz neue und unvergeßliche Perspektive. Die Motorik des Hauptmotivs hält plötzlich lauschend inne, und der ferne pochende Leitrhythmus bleibt alleine hörbar. Durch die verfremdete Landschaft entfernter Tonarten gelangen wir zum Höhepunkt des Satzes: Bei der letzten Wiederkehr des Hauptthemas erklingen Vergrößerung und Originalgestalt gleichzeitig – ein schon zu Beginn des Werkes angedeuteter, aber nicht ausgeführter kontrapunktischer Kunstgriff, der bei Mendelssohn eine Rarität ist. Ein letztes Mal erklingt noch die Frage des in Moll gefangenen Seitenthemas, dann endet der Satz mit einer wildentschlossenen Note trotzigen Mutes.

Mendelssohn zog es vor, einem Satz von so außergewöhnlicher Konzentration und nachhaltiger Wirkung bescheidener dimensionierte und leichter gearbeitete Mittelsätze folgen zu lassen, und die Lösung der im Kopfsatz aufgeworfenen Fragen für das Finale aufzusparen. Daß ihm das gelang, ohne die Stringenz des Ablaufs zu gefährden, beweist seine souveräne Meisterschaft.

Durch die Schaffung tonaler und formaler Analogien zwischen den beiden Mittelsätzen wird der Gefahr des Proportionsverlustes entgegengewirkt; trotz ihrer großen charakterlichen Gegensätzlichkeit stützen und stärken die Sätze einander und entgehen so gemeinsam der Verharmlosung durch die mächtigeren Nachbarn. Beide Sätze sind dreiteilig und tonal nach dem Prinzip des Variantenwechsels (Es-Dur – es-moll – Es-Dur im zweiten, g-moll – G-Dur – g-moll im dritten Satz) gebaut.

Das Andante con moto (Es-Dur) im Neunachteltakt ist ein Lied ohne Worte wie es inniger und schlichter kaum zu denken ist – als Klavierstück würde es sicher einen Ehrenplatz unter den acht Heften der Mendelssohnschen Stücke dieses Titels einnehmen; und daher scheint es legitim sich der Worte zu erinnern, mit denen Schumann das Erscheinen der ersten dieser Kompositionen begrüßte:

„Wer hätte nicht einmal in der Dämmerungsstunde am Klavier gesessen (ein Flügel scheint zu hoftonmäßig) und mitten im Phantasieren sich unbewußt eine leise Melodie dazu gesungen? Kann man nun zufällig die Begleitung mit der Melodie in den Händen allein verbinden, und ist man hauptsächlich ein Mendelssohn, so entstehen daraus die schönsten Lieder ohne Worte.“

Der Dur-Hauptteil hat das naive Parlando eines kindlichen Gebetes, während sich im Minore dunklere und flehentlichere Töne vernehmen lassen, die in der Coda des Maggiore dann zu einem unerwartet heftigen Ausbruch (as-moll) führen. (Die Verschränkung und teilweise Durchdringung der beiden Formteile in der Reprise stellt übrigens eine zusätzliche Parallele zwischen den beiden Mittelsätzen dar.)

Daß Mendelssohn in den Scherzi in seinem ureigensten Element ist, wurde schon allzu oft wiederholt. In diesem Satz (Scherzo. Molto allegro quasi presto, g-moll) kann man aber wirklich, wie ein Kritiker das getan hat, die perfekte „Synthese zwischen Feenzauber und Fugentechnik“ sehen – vorausgesetzt, man nimmt den Begriff „Fugentechnik“ nicht zu wörtlich; denn eigentlich begnügt sich Mendelssohn mit angedeuteten Imitationen, vornehmlich zwischen den Streichern. Der fast schon zu einem Markenzeichen des Komponisten gewordene Topos des Feen- oder Elfenreigens wird von einem Trio alla zingarese (das sicher die zustimmende Anerkennung der Kollegen Haydn und Brahms findet) unterbrochen, ohne daß der Fluß des Satzes dadurch auch nur im geringsten gestört würde. Die Leichtigkeit, mit der Mendelssohn zwischen den beiden Polen dieses Satzes vermittelt, beschert uns in der drastisch verkürzten Reprise dann noch ein besonderes Kunststück: Auch hier usurpiert das vorlaute Maggiore ein Territorium, das von Rechts wegen ganz dem Moll-Hauptteil zustünde – und trotzdem bleibt der nächtlichen Choreographie das eigentlich zu erwartende Chaos erspart.

Mit dem Finale (Allegro appassionato) kehren wir in den Fragenkreis des ersten Satzes zurück. Die ziemlich weitgehende Ähnlichkeit des Kopfmotivs mit dem Scherzo aus Brahms´ dritter Klaviersonate (f-moll, op. 5) wurde wiederholt konstatiert. Wahrscheinlich hätte Brahms diese Feststellung ebenso bärbeißig quittiert, wie den Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen dem Incipit unseres Trios und dem Beginn des Finales seines (in der selben Tonart stehenden) Klavierquartetts op. 60. Allerdings ist es sehr leicht möglich, daß dieser doppelte Anklang doch nicht ganz von ungefähr kommt: die analogen Choral-Enklaven im Schlußsatz des Brahmsschen Quartetts und in unserem Finale könnten ein zusätzliches Indiz für eine besondere Wirkung sein, die Mendelssohns Trio auf den jungen Brahms ausgeübt haben mag. Wie auch immer: die oben kurz berührten Einwände der erlauchten Musikwissenschaft gegen diesen Satz gehen vor allem deswegen ins Leere, weil sie seine Abhängigkeit vom Kopfsatz nur ungenügend in Rechnung stellen. Die formale Eigenwilligkeit  des Satzes (durchführungslose Zweiteiligkeit mit Einschub eines Choralthemas mitten in die Reprise des Hauptthemas, nachhaltig betonte Wiederaufnahme dieses „regelwidrigen“ Einschubs in der ausgedehnten Coda) und die hermeneutischen Implikationen, die sie bedingen, sind losgelöst von der Ideen- und Motivwelt des ersten Satzes gar nicht zu verstehen. Der vieldiskutierte Choral steht in direkter Abhängigkeit vom „eigentlichen“ Seitenthema des Satzes, das selbst wiederum nichts anderes als eine sehr verwandelte, aber noch immer als solche erkennbare Wiedergeburt des Seitenthemas aus dem ersten Satz ist. Diese Querbeziehungen sind wohl viel aussagekräftiger als die genaue Zuordnung der Choralmelodie selbst. (Als Quellen für den Choral werden genannt: „Vor Deinen Thron tret´ ich hiemit“, „Herr Gott, Dich loben alle wir“ und „Ihr Knechte Gottes allzugleich“; am nächsten steht wohl Bachs auf einer Genfer Psalmenausgabe von 1551 basierenden Choralsatz „Herr Gott, Dich loben alle wir“, BWV 326. Gegenüber dieser Quelle verändert Mendelssohn das Metrum, tauscht Haupt- gegen Mittelstimmen und bringt einige melodische Modifikationen an.)

Der leidenschaftliche Trotz des Hauptthemas, das von seiner (partiellen) vergrößerten Umkehrung im Baß begleitet wird, strahlt einen kämpferischen Lebenswillen aus, zu dem die „Non confundar in aeternum“-Stimmung des Seitenthemas zwar in Spannung, aber nicht in Widerspruch steht. Daß sich Lebenswillen und Gottvertrauen im Lobgesang vereinen, ist bei einem tief religiösen Menschen wie Mendelssohn ganz sicher keine rhetorische Pose. Die Pose entsteht erst im Angesicht der Masse; aber das „Suchet, so werdet Ihr finden!“ Mendelssohns wendet sich nicht an eine anonyme Masse. Der innere Adel, der Mendelssohn für so unterschiedliche Temperamente wie Louis Spohr und Robert Schumann zur höchsten Autorität machte (Schumann: „Sein Lob galt mir immer das höchste – die höchste letzte Instanz war er.“) und der wohl auch der tiefere Grund für den pathologischen Mendelssohn-Komplex Richard Wagners ist, wurde von einer nachfolgenden Zeit als klassizistische oder historistische Glätte und Unverbindlichkeit gedeutet. Wer die Botschaft dieses Trios zu hören versteht, wird keinen Augenblick mehr daran zweifeln, daß Mendelssohn nicht einfach der Autor eines genialen Violinkonzertes und einer vielseitig verwendbaren Bühnenmusik ist, sondern zu den ganz Großen unserer Musik zählt.

© Claus-Christian Schuster

Mendelssohn – Quartett op.3

Felix Mendelssohn
* Hamburg, 3. Februar 1809
† Leipzig, 4. November 1847

Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello (Nr.4), h-moll, op.3

komponiert: Berlin, 1824 – 18.Jänner 1825

Widmung: Johann Wolfgang von Goethe

Uraufführung: Paris, März 1825
Felix Mendelssohn, Klavier
Pierre Baillot (1771-1842), Violine
N. Mial, Viola
Louis Norblin (1781-1854), Violoncello

Erstausgabe: Hofmeister, Leipzig, Dezember 1826

Mendelssohns viertes und letztes Klavierquartett ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: zum einen dokumentiert es – als Schlußstück der innerhalb weniger Jahre (1821-1825) entstandenen Werkreihe – beispielhaft die Rasanz und Zielstrebigkeit von Mendelssohns kompositorischer Entwicklung, andererseits ist es aber auch für sich genommen ein aufschlußreiches Denkmal der wahrscheinlich folgenreichsten Begegnung, die das Leben des Wunderkindes prägte: jener mit Johann Wolfgang von Goethe, dem das Quartett gewidmet ist. Das Werk des Fünfzehnjährigen steht dabei eher am Ende als am Anfang einer Entwicklung: In Textur und Anlage hat es wahrscheinlich mehr mit den Gattungsmustern aus dem XVIII. Jahrhundert als mit dem „romantischen“ Klavierquartett der unmittelbar folgenden Jahrzehnte gemeinsam.

Die öfter geäußerte Mutmaßung, die Bevorzugung dieses Genres in Mendelssohns erster Schaffensperiode habe mit der (im Vergleich zu Streichquartett und Klaviertrio) relativ schwachen Gattungstradition des Klavierquartetts zu tun, die dem jungen Komponisten die Belastung durch allzu viele große Vorbilder erspart habe, mag aus unserer zeitlichen Perspektive schlüssig erscheinen: Bevor man aber dieses Argument aufgreift, sollte man sich vergegenwärtigen, daß es – neben den drei bis heute lebendigen Meisterwerken, die Mendelssohn vorlagen (Mozart, KV 478 und KV 493, Beethoven, op.16) – eine sehr beachtliche Anzahl veröffentlichter und vielgespielter Klavierquartette damals hochgeschätzter Meister aus der Zeit unmittelbar vor der Entstehung unseres Werkes gibt, die, obwohl heute fast vergessen, die Richtigkeit dieser Perspektive recht fraglich erscheinen lassen. Auffällig viele dieser Werke entstammen dem Beethoven-Umfeld – und welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit Beethoven und seinem Erbe für den jungen Mendelssohn hatte, zeigen ja auch seine bald nach den Klavierquartetten entstandenen ersten Streichquartette.

Für den in Berlin heranwachsenden Komponisten kommen in diesem Zusammenhang wohl vor allem die drei Klavierquartette (op. 4-6) des Hohenzollern-Prinzen Louis Ferdinand von Preußen (1772-1806) in Betracht. Daß Beethoven selbst sich auch schon als Fünfzehnjähriger an drei Klavierquartetten (WoO 36) versucht hatte, konnte Mendelssohn wohl nicht wissen; die beiden Klavierquartette des Beethoven-Schülers Ferdinand Ries (1784-1838) könnten ihm aber durchaus vertraut gewesen sein, ebenso das 1817 erschienene Werk des damals populären Conradin Kreutzer (1780-1849, nicht zu verwechseln mit dem Widmungsträger der Kreutzer-Sonate, dem französischen Geiger Rodolphe Kreutzer). Unter den anderen Werken, die so etwas wie eine „Klavierquartett-Tradition“ belegen, wäre natürlich noch Carl Maria von Webers Opus 8 (1809) zu erwähnen. Im selben Jahr veröffentlichte übrigens Václav Jan Tomasek (1774-1850), der etwa zur gleichen Zeit wie Mendelssohn zu Goethe in Kontakt treten sollte, sein einziges Klavierquartett. (Schumann wird ihm an Schuberts 50. Geburtstag in Prag begegnen und in ihm einen interessanten geistreichen Alten finden.)

Während man also schwerlich behaupten kann, Mendelssohn habe seine Erstlingssaat in einem Brachfeld ausgebracht, so fällt doch auf, daß sich die Diktion seiner vier Klavierquartette recht deutlich von der seiner älteren Zeitgenossen unterscheidet. Neben unvermeidlichen Spuren der Auseinandersetzung mit Mozart und Beethoven finden sich in diesen Werken nämlich ­– und zwar in zunehmendem Maße – vor allem Echos vorklassisch-barocken Musizierens. Aus diesem Blickwinkel könnte die ganze Werkreihe (und unser H-moll-Quartett als krönender Abschluß in ganz besonderer Weise) durchaus auch als frühes Beispiel einer „historistischen“ Kompositionshaltung gedeutet werden. Es ist gut möglich, daß Zelter, der als Leiter der Berliner Singakademie einer der Hauptexponenten eines erneuerten und vertieften Interesses an älterer Musik war, seinem Schüler einige Anregungen in dieser Richtung gegeben hat; ein Blick auf das Werk seiner anderen prominenten Schüler – Carl Loewe, Gustav Meyerbeer und Otto Nicolai – wird uns allerdings davor bewahren, diesem Einfluß allzuviel Gewicht beizumessen. Viel eher ließe sich mutmaßen, daß dieser – im übrigen für ein Frühwerk nicht ganz außergewöhnliche – „historistische“ Wesenszug ganz unmittelbar mit der Art der Beziehung des Komponisten zu Johann Wolfgang von Goethe, dem Widmungsträger des Opus 3, zusammenhängen könnte.

Schon Mendelssohns Vater war zu Goethe in eine wenn auch nur flüchtige Beziehung getreten: 1816 hatte er dem Dichter einen Brief Carl Friedrich Zelters (1758-1832) überbracht. Schon damals hatte Abraham Mendelssohn die Absicht gehabt, Goethe auch seine Kinder vorzustellen, wozu sich dann aber kein passender Zeitpunkt gefunden hatte. Erst fünf Jahre später – Carl Friedrich Zelter war in der Zwischenzeit der Musiklehrer der Kinder geworden – kam es zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Felix Mendelssohn und Johann Wolfgang von Goethe. Zelter selbst kündigt seinem illustren Freund den Besuch an:

„Morgen früh reise ich mit meiner Doris und einem zwölfjährigen muntern Knaben, meinem Schüler, dem Sohn des Herrn Mendelssohn, ab nach Wittenberg um dem dortigen Feste beyzuwohnen. […] Meiner Doris und meinem besten Schüler will ich gerne Dein Angesicht zeigen, ehe ich von der Welt gehe, worin ich´s freylich so lange als möglich aushalten will.“

(Brief Zelters an Goethe vom 26. Oktober 1821)

Wenige Wochen zuvor hatte der „muntere Knabe“ seinem Lehrer ein erstes Klavierquartett, ein schließlich unvollendet (und bis in die jüngere Vergangenheit auch unveröffentlicht) gebliebenes Werk in d-moll, zur Korrektur vorgelegt.

Sechzehn Tage lang hielt sich Zelter mit seiner Tochter und seinem Lieblingsschüler in Weimar auf. Die bekannte Schilderung dieses ersten Zusammentreffens in Ludwig Rellstabs Lebenserinnerungen (Berlin 1861) ist zwar nicht aus dem unmittelbaren Erleben, sondern schon in voller Kenntnis der „geschichtlichen“ Dimension dieser Begegnung niedergeschrieben, vermittelt aber doch ein anschauliches und wohl in allen wesentlichen Punkten zutreffendes Bild. Noch lebendiger skizziert Felix selbst die Situation in einem Brief an seine Eltern:

 „Ich spiele hier viel mehr als zu Hause, unter vier Stunden selten, zuweilen sechs, ja acht Stunden. Alle Nachmittage macht Goethe das Streichersche Instrument mit den Worten auf: »Ich habe Dich heute noch gar nicht gehört, mache mir ein wenig Lärm vor.«; und dann pflegt er sich neben mich zu setzen.“

Angesichts der sich in diesen Tagen anbahnenden ungewöhnlichen Freundschaft verwundert es nicht, daß die Mendelssohns die allernächste Gelegenheit, Goethe wieder einen Besuch abzustatten, ergriffen. Diese bot sich schon im nächsten Jahr auf der Rückreise von einem Sommeraufenthalt in der Schweiz. Diesmal wurden auch die Schwestern Fanny und Rebecka Goethe vorgestellt. Felix spielte seinem großväterlichen Freund ein eigens zu diesem Anlaß innerhalb weniger Tage in Frankfurt komponiertes (zweites) Klavierquartett (c-moll, op.1) vor, das er dann dem Goethe-Verehrer Fürst Antoni Henryk Radziwill (1775-1833), dem Schwager des oben erwähnten Louis Ferdinand von Preußen, widmen sollte. (Radziwill, der neben seiner Tätigkeit als preußischer Statthalter in Posen unermüdlich an seinem opus summum, einer umfangreichen Bühnenmusik zu Goethes Faust arbeitete, wurde übrigens auch von Beethoven und Chopin mit Widmungen bedacht.) Auch Fannys Lieder auf Goethesche Texte finden das Gefallen des Dichters. Ihr Klavierquartett, an dem sie schon seit Mai arbeitet, wird aber erst etliche Wochen nach dem Besuch in Weimar fertig. – Lea Mendelssohn sagt Goethe zum Abschied: „Es ist ein himmlischer, kostbarer Knabe! Schicken Sie ihn mir recht bald wieder, daß ich mich an ihm erquicke.“

Ein halbes Jahr später kann Zelter seinem Freunde nach Weimar berichten:

„Mein Felix hat sein fünfzehntes Jahr angetreten.Er wächst unter meinen Augen. Sein erstaunliches Clavierspiel darf ich ganz als Nebenher ansehen.[…] Alles gewinnt Gediegenheit, kaum fehlt noch Stärke und Macht; alles kommt von Innen und das Äußerliche seiner Zeit berührt ihn nur äußerlich. Denke Dir meine Freude, wenn wir´s erleben, daß der Knabe lebt und erfüllt was seine Unschuld verspricht. Gesund ist er. Ein sehr schönes Quartett fürs Fortepiano wünsche ich daß es Deiner Großfürstin zugeeignet würde. […] Es ist ganz neu und noch besser als das was er in Weimar hat hören lassen.“

(Brief Zelters an Goethe, 11. März 1823)

 Die im März 1825 erschienene Ausgabe dieses (dritten) Klavierquartetts (f-moll, op.2) sollte dann freilich nicht die von Zelter gewünschte Widmung an die Großfürstin Maria Pavlovna tragen – Mendelssohn eignete dieses Werk seinem Lehrer selbst zu.

 

Schon einige Wochen vor der Veröffentlichung des F-moll-Quartetts, am 18. Jänner 1825, hatte Mendelssohn sein viertes und letztes Klavierquartett (h-moll, op.3) vollendet. Mit diesem jüngsten Werk im Gepäck machte er sich im März in Begleitung seines Vaters auf die Reise nach Paris. Abraham Mendelssohn maß dieser Unternehmung ganz besondere Bedeutung bei: vom Urteil Luigi Cherubinis (1760-1842), des gefeierten Direktors des Pariser Conservatoire, sollte es abhängen, ob Felix die Musik zu seinem Lebensberufe machen dürfe. Die Begegnung mit dem Maestro verlief nicht ganz reibungsfrei – der elegante und selbstsichere Junge mußte dem alternden Pädagogen verschwendungssüchtig und eitel erscheinen, während Felix in Cherubini nur mehr eine ehrwürdige Ruine sah. (Cherubinis Tochter, die Felix „göttlich hübsch“ fand, bot da schon einen anderen Anblick…) Doch diese wechselseitigen Vorbehalte konnten nichts am professionellen Urteil des Meisters ändern. Über das Zusammentreffen schreibt Felix seiner Mutter:

„[…] Nun endlich zu den Musikern selbst, soviel ich ihrer bis jetzt kenne. Vor allem Cherubini, den ich einigemal gesehen. Der ist vertrocknet und verraucht. Neulich hörte ich in der königlichen Capelle eine Messe von ihm, die war so lustig, wie er brummig ist, d. h. über alle Maaßen. Halévy versicherte, es gäbe Tage, wo gar nichts aus ihm raus zu kriegen wäre. Einen jungen Musiker, der ihm etwas vorgespielt, habe er gefragt, ob er vielleicht gut malen könne; einem anderen habe er gesagt, »vous ne ferez jamais rien«; wenn er selbst ihm etwas zeige, und Cherubini sage nichts und schnitte keine grimace, so müsse es ganz vortrefflich seyn. Er hat ihm nur ein einzigesmal, und zwar nachdem ihm Halévy seine Oper vorgespielt, gesagt: c´est bien. – Mais c´est trop long, il faut couper. Alle Leute, die ihn kennen, sind sehr verwundert, daß er, nachdem er mein h moll Quartett aufs allerschändlichste hat executiren hören, lächelnd auf mich zukam und mir zunickte. Dann sagte er zu den Andern: ce garçon est riche, il fera bien; il fait même déjà bien; mais il dépense trop de son argent, il met trop d´étoffe dans son habit. Alle behauptete, daß seie ganz unerhört, besonders als er nachher hinzusetzte: je lui parlerai alors il fera bien! Dann sagten sie, er hätte noch niemals mit jungen Musikern gesprochen. Auch wollte Halévy gar nicht glauben, daß Cherubini mir das gesagt habe. Kurz, ich behaupte, daß Cherubini der einzige Mensch ist, auf den Klingemanns Wort mit dem ausgebrannten Vulkan paßt. Er sprüht noch zuweilen, aber er ist ganz mit Asche und Steinen bedeckt.“

(Brief vom 6. April 1825)

 Wenn der junge Komponist sein Werk auch „aufs allerschändlichste executirt“ fand, so waren seine Partner bei dieser Aufführung, die als Premiere gelten darf, doch unter den angesehensten Pariser Musikern. (Der heute nur mehr als Autor didaktischer Werke bekannte Pierre Baillot darf neben Ignaz Schuppanzigh als einer der wichtigsten Pioniere des professionellen Quartettspiels gelten; Cherubini selbst hat in seinen letzten Lebensjahren für ihn sechs Streichquartette geschrieben.) Übrigens sollten die erfrischend offenen und unmittelbaren Urteile des jungen Parisbesuchers nicht auf die Goldwaage gelegt werden; so entlockt ihm etwa seine erste Bekanntschaft mit Mozarts Klarinettenquintett (KV 581, 1789) das Verdikt: „Es sind sehr schöne Sachen drin, aber die Jugendarbeit giebt sich in jeder Note […] zu erkennen.“

 Nach zwei Monaten in Paris, wo Mendelssohn neben Cherubini auch Rossini, Reicha, Onslow, Hummel und vielen anderen älteren Kollegen begegnete, machten sich Vater und Sohn auf die Heimreise, die sie über Frankfurt am Main wiederum nach Weimar führte. Hier präsentierte Felix am Abend des 20. Mai 1825 Goethe das ihm zugedachte Klavierquartett; der Weimarer Geiger und Komponist Carl Eberwein (1786-1868) und zwei anonym geblieben Musiker begleiteten ihn.

Dieser dritte Besuch war der kürzeste, und das Bedauern darüber klingt in Goethes Brief, den er am folgenden Tag an Zelter schickt, nach:

„[…] Herr Mendelssohn verweilte auf seiner Rückreise von Paris allzukurze Zeit; Felix produzierte sein neustes Quartett zum Erstaunen von jedermann; diese persönlich hör- und vernehmbare Dedikation hat mir sehr wohlgetan. Den Vater konnte nur flüchtig sprechen, weil eine große Gesellschaft und die Musik abhielt und zerstreute. Ich hätte so gern durch ihn etwas von Paris vernommen. Felix hat den Frauenzimmern von den dortigen musikalischen Verhältnissen einiges erzählt, was den Augenblick sehr charakterisiert. Grüße die ganze Familie und erhalte mein Andenken auch in diesem Kreise.“

 „Diese persönlich hör- und vernehmbare Dedikation“ – das ist gewiß mehr als eine wohlwollende und freundliche Floskel. Für Goethes Ohr, über das die Musikwissenschaft sehr abschätzig zu urteilen pflegt, muß im leidenschaftlichen Ernst und der innigen Begeisterung dieser jugendlichen Partitur etwas bewahrt gewesen sein, was ganz persönlich ihm galt, und der Dichter hat diese Botschaft sehr wohl vernommen. Nicht, daß diese Empfänglichkeit uns für Goethes Taubheit Beethoven und Schubert gegenüber entschädigte; aber vielleicht sollten wir versuchen, das Mendelssohnsche Quartett ein wenig mit Goethes Ohren zu hören. 

Wie Goethe seinem heranwachsenden Freund zuhörte, das hat er selbst am treffendsten unmittelbar nach Felix´ letztem Besuch geschildert:

„So eben, früh halb 10 Uhr, fährt bey klarstem Himmel, im schönsten Sonnenschein, der treffliche Felix, mit Ottilien, Ulriken und den Kindern, nachdem er vierzehn Tage bey uns vergnüglich zugebracht und alles mit seiner vollendet liebenswürdigen Kunst erbaut, nach Jena […]. Mir war seine Gegenwart besonders wohlthätig, da ich fand: mein Verhältniß zur Musik sey noch immer dasselbe; ich höre sie mit Vergnügen, Antheil und Nachdenken, liebe mir das Geschichtliche; denn wer versteht irgend eine Erscheinung, wenn er sich [nicht] von dem Gang des Herankommens penetrirt? Dazu war denn auch die Hauptsache daß Felix auch diesen Stufengang recht löblich einsieht, und glücklicherweise sein gutes Gedächtniß ihm Musterstücke aller Art nach Belieben vorführt. Von der Bachischen Epoche an, hat er mir wieder Haydn, Mozart und Gluck zum Leben gebracht; von den großen neuern Technikern hinreichende Begriffe gegeben, und endlich mich seine eigenen Productionen fühlen und über sie nachdenken machen.“

(Brief an Zelter, 3. Juni 1830)

Da dieser letzte Besuch nur in vertiefter Weise fortsetzte, was in den ersten drei Begegnungen begonnen worden war, wird man wohl auch die „archaischen“, „historisierenden“ Aspekte unseres H-moll-Quartetts als Teil dieses musikalischen Dialoges mit Goethe werten dürfen.

Schon zu Beginn des ersten Satzes (Allegro molto) beschwört die symbolträchtige, Schlüsselwerke evozierende Grundtonart  mit pochenden Baßoktaven den Geist des Thomaskantors. Trotzdem ist das Hauptthema selbst durchaus keine Stilkopie; und vor allem seine Behandlung ist reinster und unverwechselbarer Mendelssohn. Die emblematische Keimzelle – eine chromatische Umkreisung des Grundtones – wird zum allgegenwärtigen Bindeglied des Satzes. Das Seitenthema, das einer Mendelssohnschen Vorliebe entsprechend variativ aus dem Hauptthema abgeleitet ist und keinen dialektischen Konflikt mit diesem sucht, erscheint schon in der Fortspinnung des Nachsatzes. Da die innige Verschwisterung dieser beiden thematischen Erscheinungsformen ihre parallele Verwendung in der Durchführung problematisch erscheinen ließe, führt der Komponist ein eigenes Durchführungsmotiv ein, das nur den betonten Halbtonschritt mit dem Hauptthemenkopf gemeinsam hat. In Verbindung mit dem für den Durchführungsteil gewählten rascheren Tempo ermöglicht die Symbiose dieser beiden Elemente einen dramatisch beschleunigten und modulationsreichen Ablauf dieses entscheidenden Abschnittes. Die Reprise, die Mendelssohn während der Arbeit noch einschneidend kürzte, verebbt in eine Folge von zwei Orgelpunkten, an denen der motorische Impetus des Stückes zu brechen droht, bis die Wiederaufnahme des raschen Durchführungsmotivs den Satz mit einer energischen Coda beschließt. Die in vielen späteren Werken des Meisters gepflegte strukturelle Zweiteiligkeit (Exposition/Durchführung – Reprise/Coda), als deren Grundvoraussetzung die Entlastung der Durchführung von dialektischen Aufgaben gelten muß, kündigt sich in der formalen Disposition dieses Jugendwerkes schon deutlich an.

Das Thema des langsamen Satzes (Andante, E-Dur) beweist, auf welch subtile Weise Mendelssohn der „Simplizität“ und dem „Regelmaß“ zu entgehen wußte, das oberflächliche oder bösmeinende Kritiker seiner Musik mitunter vorwerfen. Obwohl das Thema äußerlich der achttaktigen Norm entspricht, weicht es in seinem harmonischen und metrischen Verlauf der regelmäßigen Periodik auf raffinierte Weise aus. Daß das Klavier, dem das Thema zunächst anvertraut ist, als Folge dieses Raffinements nicht einmal mehr aus eigener Kraft in die ganz naheliegende Tonika zurückzufinden vermag, sondern von den teilnahmsvollen Streichern gewissermaßen nach Hause getragen werden muß, darf durchaus als ein Element romantischer Ironie verstanden werden – und ich möchte glauben, daß der Autor des „Wilhelm Meister“ für solche Züge nicht unempfänglich war. Auch die Weiterführung des Satzes zeigt uns den jungen Mendelssohn als einen Meister des spielerischen Umganges mit Formkonventionen, die er lächelnd umgeht und dabei unzerbrochen und heil läßt. Die endlich erreichte Tonika wird noch einmal kadenzierend bekräftigt; die Fortspinnung dieser Bekräftigung führt uns auf die Wechseldominante, von wo aus wir zum zweiten Mal das Thema – diesmal natürlich auf der Dominante – erreichen. Jetzt kennt der Pianist den Heimweg schon und erspart sich daher die retardierenden Verirrungen. Leider bringt gerade diese Sicherheit das Thema um zwei Takte und somit um sein labiles „Ebenmaß“, seinen unverwechselbaren Zauber. (Wer vermöchte zu sagen, ob der Junge wirklich schon so viel Lebensweisheit besaß, um mit dem Hintersinn dieses musikalischen Experimentes bewußt zu spielen?) Die abweichende Fortführung scheint jedenfalls auf diesen Verlust mit sehnsüchtigen Komplikationen zu reagieren. In einem neuerlichen Anlauf versucht nun das Cello sein Glück, zwar wieder in der Tonika, doch ganz in den bieder hinkenden Fußstapfen der vorigen Variante. Erst die variierte Wiederholung der zweiten Fortführung findet die „verlorenen“ beiden Takte wieder auf, über die das Stück endlich selig in den Heimathafen einlaufen kann.

Der Sinn dieses bezaubernden Satzes scheint mir ganz in diesem unschuldigen Spiel zu liegen; die möglichst korrekte und stichhaltige Anwendung der formalen Terminologie auf die „Satzglieder“ ABACAC(A) erscheint daneben als eine recht verzichtbare Fleißaufgabe.

Das Scherzo (Allegro molto, fis-moll) ist ein sehr frühes Beispiel für die berühmten Mendelssohnschen „Elfenscherzi“. Für den analogen Satz des Oktetts op.20 überlieferte Fanny Mendelssohn als literarische Vorlage die Schlußverse der Walpurgisnacht:

Wolkenflug und Nebelflor
Erhellen sich von oben,
Luft im Laub und Wind im Rohr
Und alles ist zerstoben.

Aus Goethes Gesprächen mit Eckermann wissen wir, daß der Dichter schon im Scherzo des Klavierquartetts das poetische Urbild mühelos wiedererkannte:

„Es ist wunderlich, wohin die aufs Höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Komponisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen… Mir bleibt alles in den Ohren hängen… Doch das Allegro hatte Charakter. Dieses ewige Wirbeln und Drehen führte mir die Hexentänze des Blocksbergs vor Augen, und ich fand also doch eine Anschauung, die ich der wunderlichen Musik supponieren konnte.“

(Gespräch vom 14. Jänner 1827)

Die chromatische Umkreisung eines Zentraltones – diesmal der Dominante – weckt die Erinnerung an das Grundmotiv des Kopfsatzes. Die alternierenden Formteile, Scherzo (fis-moll) und Trio (H-Dur), sind durch die ostinate Klavierfiguration und die völlig analoge formale Gestaltung (jeweils eine monothematische Sonatenform en miniature) zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, was den Satz besonders großflächig erscheinen läßt.

Auch das Finale (Allegro vivace) ist von beeindruckenden Dimensionen. Wie schon im Kopfsatz fällt die Dominanz des Hauptthemenkopfes (hier ein rhythmisch bestimmtes Motiv) auf. Die dem eigentlichen Hauptthema vorangehende Einleitung erinnert in Instrumentation und Textur (Klavierdiskant in Oktaven gegen orchestrale Streicherflächen) entfernt an einige besonders charakteristische Stellen der Schubertschen Klavierkammermusik. Während diese Parallele natürlich keinesfalls auf direkte Einflüsse hinweist, werden in der Entwicklung des Hauptthemas selbst recht deutlich Reminiszenzen Beethovenscher Töne vernehmbar.

Die formale Gestaltung und Organisation des Satzes ist allerdings ganz autonomer und origineller Mendelssohn. Da die thematischen Zellen außerhalb des Hauptthemenkomplexes recht schwach ausgeprägt sind, wird die Großgliederung durch die ostinate Figuration der Begleitstimmen erzielt: Sechzehntel für die Einleitung, Achteltriolen für den ersten, homophonen, und Staccato-Achteln für den zweiten, fugierten Abschnitt der „Durchführung“, während das rhythmisch prägnante Hauptthema in der Art eines einfachen Chorsatzes, also mit seinem eigenen Rhythmus begleitet wird. Die im ersten Satz nur angedeutete Zweiteiligkeit ist hier voll ausgeprägt: die „Coda“ ist eine  gekürzte Wiederholung der „Durchführung“, die an den Ausgangspunkt des Werkes – zur chromatischen Tonfolge, die das Leitmotiv des Kopfsatzes gebildet hatte – zurückkehrt.

Die Deutlichkeit, mit der nicht nur in diesem Punkt wesentliche Elemente des Mendelssohnschen Personalstils hier erstmals in Erscheinung treten, machen dieses letzte Klavierquartett des noch nicht Sechzehnjährigen zu einem für das Verständnis seiner Eigenart zentralen Schlüsselwerk. Daß es daneben dem als unmusikalisch verleumdeten deutschen Dichterfürsten einmal auch einen „wortlosen“ Platz in der Musikgeschichte verschafft hat, macht seinen ganz besonderen Reiz aus.

© Claus-Christian Schuster

Dvořák – Ballade op. 15

Antonín Dvořák
Ballade für Violine und Klavier, d-moll, op. 15 [B 139]
komponiert: 1884?

Erstausgabe: J. W. Coates, London, Dezember 1884

 Die D-moll-Ballade entstand wahrscheinlich in Erfüllung eines Kompositionsauftrages des Londoner Verlegers J. W. Coates, der als Herausgeber des „Magazine of music“ fungierte. Wahrscheinlich weist die hier von Dvořák verwendete niedrige Opusnummer (im Erstdruck heißt es: Op. 15 I, was die Vermutung nahelegt, der Komponist habe zumindest ein weiteres Stück dieser Besetzung geplant) nicht auf eine frühere Skizzierung des Werkes hin. Dvořák pflegte mitunter, die bei der Publikation seiner Werke zunächst „übersprungenen“ Opusnummern nachträglich mit Gelegenheitskompositionen aufzufüllen. Jedenfalls ist das Autograph der Komposition undatiert; Otakar Šourek hat aufgrund tonartlicher, charakterlicher und motivischer Indizien die Vermutung geäußert, die Ballade könne die Metamorphose einer verworfenen Skizze zum langsamen Satz der D-moll-Symphonie (op. 70/B 141) sein; die dokumentierte Entstehungszeit der Symphonie reicht von Dezember 1884 bis März 1885 – sollte Šoureks Hypothese zutreffen, müßte es sich also angesichts des Publikationsdatums um einen schon im Frühstadium der Niederschrift ausgeschiedene Passus handeln. Unbestreitbar ist allerdings die Stimmungsverwandtschaft der Ballade mit dem fraglichen Symphoniesatz. – Dvořák scheint Coates übrigens nur territorial beschränkte Rechte an dem Werk überlassen zu haben, denn schon im August 1885 erschien im Prager Verlag Urbánek eine zweite Ausgabe der Ballade.

© Claus-Christian Schuster

Dvořák – Quintett op. 5

Antonín Dvořák
* Nelahozeves, 8. September 1841
† Prag, 1. Mai 1904

Klavierquintett Nr. 1, A-Dur, op. 5 [B 28]
komponiert: Prag, August 1872; umgearbeitet in Prag und Vysoká, April bis Juli 1887

Uraufführung der Erstfassung: Prag, Convict-Saal, 22. November 1872
Karel Slavkovský (1845-1919), Klavier

Vojtěch Hřímalý jun. (1842-1908), Violine
Josef Krehan, Violine
Wilhelm Bauer, Viola
Alois Neruda (1837-1899), Violoncello

Uraufführung der revidierten Fassung: Prag, Konservatorium, 29. März 1922
Fr. Bartová, Klavier
Jaroslav Štěpánek (1905-?), Violine
Bedřich Ort (1902-?), Violine
Josef Kudrnovský, Viola
Josef Fikais, Violoncello

Erstausgabe: Editio Supraphon, Prag 1959 (Dvořák-Gesamtausgabe Serie IV, Band 11/1)

Man könnte die Gattung des Klavierquintetts als das „Leitfossil“ der Hochblüte der Kammermusik bezeichnen: Entstehung und Aufführung von Werken dieses Genres waren meist nur dort möglich, wo es schon ein dichtes Netz von kamnmermusikalischen Traditionen und Aktivitäten gab. Kein Wunder also, daß das erste wirklich „klassische“, das heißt jenseits aller Spezialinteressen und Wiederbelebungsversuche bis heute omnipräsente Werk dieser Gattung, Schumanns Es-Dur-Quintett op. 44, erst 1842 – also ein gutes halbes Jahrhundert nach den ersten Klassikern der Genres Streichquartett und Klaviertrio – entstanden ist. Und ebenso wenig ist es ein Zufall, daß dieses Schumannsche Paradigma in Prag besonders lange und intensiv nachwirkte. Denn nirgendwo war Schumanns Botschaft auf fruchtbareren Boden gefallen als hier – und Schumanns epochemachende Neue Zeitschrift für Musik zählte schon ein Jahr nach ihrer Gründung (1833) in Prag ebensoviele Abonnenten wie in Dresden und Hamburg zusammen. Der Prager „Davidsbund“, dem mit August Wilhelm Ambros und Eduard Hanslick Zentralfiguren auch der späteren österreichischen Musikgeschichte angehörten, erfüllte den spätestens seit Mozarts Triumphen weithin anerkannten Ruf Prags als Musikmetropole mit neuem Leben und strafte jene „angeblich gut informierten“ Ratgeber Lügen, deren Cassandrarufe Hector Berlioz im Kapitel LIII seiner Mémoires zitiert:

„Gehen Sie nicht nach Prag, sagte man mir, das ist eine Pedantenstadt, wo man nur die Werke der Toten zu würdigen weiß: die Böhmen sind hervorragende Musiker, das ist wahr, aber nach der Art der Professoren und Schulmeister ; für sie ist alles, was neu ist, abscheulich, und es ist anzunehmen, daß Sie an ihnen keine Freude haben werden.“

Daß Berlioz dieser Warnung nach seinen fulminanten Prager Erfolgen rückblickend jenen von der tschechischen Tourismusindustrie weidlich ausgenützten Sehnsuchtsruf „O Praga! Quando te aspiciam!“ entgegensetzt, ist Musikgeschichte. Und in Prag schrieb man Musikgeschichte mit einer Ausdauer und Vitalität, wie man sie nicht häufig findet – und das, obwohl niemand der Diagnose des Prager Davidsbündlers Franz Balthasar Ulm widersprechen mochte, daß es nämlich eine geradezu unlösbare Aufgebe darstelle, „die disparaten Mitglieder unserer zerklüfteten Gesellschaft von Musikern und Musikfreunden unter einen Hut zu bringen“.

Anlaß zu dieser bitteren Diagnose hatte das vorzeitige Abschiedskonzert des hochverdienten Antonín Apt (1815-1887) gegeben, der im März 1865 mit dem 117. Konzert des von ihm 1840 gegründeten und seither geleiteten  Cäcilienvereins, der neben Orchester- und Chorwerken auch der Kammermusik ein Podium geboten hatte, sein Wirken beendete. Aber es wäre nicht Prag gewesen, hätte sich nicht sogleich neues Leben geregt: In Ludevít Procházka (1837-1888) fand das Prager Musikleben einen jungen, phantasievollen Anreger und tatkräftigen Förderer. Schon während seines Jusstudiums war Procházka Klavierschüler Bedřich Smetanas gewesen, dessen treuer Verehrer und Verteidiger er zeitlebens bleiben sollte, hatte sich 1861 an der Gründung der bis heute bestehenden Chorvereinigung Hlahol, 1863 gemeinsam mit Smetana (der im selben Jahr Leiter des Hlahol wurde) an der noch folgenreicheren der Umělecká beseda beteiligt, wo er als Sekretär der Musiksektion wirkte, und war außerdem seit 1865 als Musikkritiker der einflußreichen Národní listy tätig. Neben seinem „bürgerlichen“ Beruf als wohlbestallter Magistratsbeamter gab er seit 1870 eine eigene (bis 1875 bestehende) Musikzeitschrift, die Hudební listy, heraus und gehörte 1871 zu den Initiatoren der für das tschechische Musikleben der nächsten Jahrzehnte unentbehrlichen Verlagsgesellschaft Hudební matice.

Da Procházka nach dem Rückzug Apts das Fehlen eines Prager Forums für die Präsentation neuer Musik als besonders schmerzlich empfand, entschloß er sich kurzerhand, eine eigene Kammermusikreihe ins Leben zu rufen.

Die zunächst formlos als Hauskonzerte in Procházkas Neustädter Wohnung in der Ječná ulice (Gerstengasse) 7 abgehaltenen Zusammenkünfte genossen bald den besten Ruf. Am 10. Dezember 1871 konnten die Zuhörer hier die erste öffentliche Aufführung eines Werkes des immerhin schon dreißigjährigen Antonín Dvořák hören, der erst wenige Monate zuvor sein relativ ruhiges und sicheres Bratschistendasein in dem von Smetana geleiteten Theaterorchester zugunsten einer ungewissen Zukunft als freischaffender Komponist aufgegeben hatte: Vzpomínání  (Gedenken), das letzte der fünf Lieder (B 23), die Dvořák kurz zuvor auf gerade erst veröffentlichte Gedichte der jungen Eliška Krásnohorská (i. e. Alžběta Pechová, 1847-1926), Smetanas späterer Librettistin, geschrieben hatte. Offenbar fand dieses Début Anklang bei Hörern und Veranstalter, denn schon im April 1872 wurden im selben Rahmen Dvořáks Lieder Proto (Darum, die zweite der Vertonungen aus dem Krásnohorská-Zyklus B 23) und Sirotek (Das Waisenkind, B 24) auf einen Text des 1870 verstorbenen Karel Jaromír Erben (dessen 1853 erschienenes Kytice z pověstí národních (Blumenstrauß von Volkssagen noch 1896 die Vorlagen zu vier der fünf symphonischen Dichtungen Dvořáks liefern wird) aufgeführt. (Dieses letztere Lied trug ursprünglich die später auf unser Klavierquintett übergegangene Opusnummer 5.) Kurz darauf präsentierte Ludevít Procházka seinen Zuhörern das Adagio aus einem der beiden (später von Dvořák vernichteten) Klaviertrios op. 13 (B 25-26).

Da Procházkas Hauskonzerte – wohl nicht zuletzt wegen der Qualität der hier vorgestellten neuen Werke – ein immer zahlreicheres Publikum anzogen, mußte man bald in einen richtigen Konzertsaal übersiedeln. Das erste Konzert dieser unentgeltlich zugänglichen Matinéenreihe fand am Freitag, dem 22. November 1872, im traditionsreichen Convict-Saal statt. Das Programm dieses Mittagskonzertes wurde gleich mit dem gewichtigsten und längsten Werk, der Uraufführung von Dvořáks Quintett, eröffnet. Die Autorenliste der nachfolgenden  Kompositionen gibt nicht nur einen Eindruck von Procházkas Überparteilichkeit, Weltoffenheit und Zurückhaltung (seine eigenen Kompositionen programmierte er fast nie), sondern auch von der bewundernswerten Aufnahmebereitschaft des Prager Publikums: Lieder von Zdenko Fibich (1850-1900), von Betty Hanušová, seiner zukünftigen Schwägerin und späteren zweiten Frau gesungen, von Robert Franz (i. e. Robert Knauth, 1815-1892) und Richard Wagner, Werke des von Hans von Bülow so hochgeschätzten Joachim Raff (1822-1882) und des in Wien als Verleger (und später als unermüdlicher Bibliograph) tätigen  Johann Peter Gotthard (i. e. Bohumil Pazdírek, 1839-1919), sowie die von Karel Slavkovský, der 1878 auch Dvořáks Klavierkonzert aus der Taufe heben wird, vorgetragenen Klavierstücke des (später in St. Petersburg wirkenden) Organisten Vojtěch Hlaváč (1849-1911) und des in Prag und Paris ausgebildeten Polen Władysław Želeński (1837-1921) bildeten das überreiche Programm dieses Mittagskonzertes.

Daß mit Wagner der älteste der vertretenen Komponisten 59, die Mehrzahl der anderen aber zwischen 22 und 35 Jahre alt waren, scheint keinem der zahlreichen Musikfreunde, die sich an diesem Tag zusammenfanden, das Gefühl vermittelt zu haben, an einer provokanten Avantgarde-Veranstaltung teilzunehmen; doch deutsche, tschechische und polnische Gegenwartsmusik in dieser Weise zu vereinen, war in einer Atmosphäre stetig wachsender nationaler Spannungen sicher weder alltäglich noch unumstritten. Gerade der Zusammenklang all dieser verschiedenen Idiome und Strömungen hat aber als Umgebung für die Uraufführung von Dvořáks Quintett geradezu symbolische Bedeutung: Denn in dieser Partitur, die im Jahr nach der Vollendung der Erstfassung der komischen Oper Král a uhliř (König und Köhler, B 21), eines besonderen Sorgenkindes im Œuvre des Komponisten, entstand, sind die sich allmählich zu einem Personalstil von ganz unverwechselbarer Eigenart klärenden Tendenzen, in denen sich die widersprüchlichen Erfahrungen der zwölf Orchesterjahre des Verfassers auf ganz eigentümliche Weise widerspiegeln, besonders deutlich vernehmbar. Wahrscheinlich ist es die außergewöhnliche Komplexität dieser Schaffenssituation, die das recht unglückliche Schicksal des Werkes mitbestimmt hat.

Der anonyme Rezensent der Hudební listy (etwa Ludevít Procházka selbst?) lobt die „lebendige, mit schwungvollen und poetischen Gedanken überschäumende  Phantasie, die Gewandtheit und Kühnheit in der Harmonisierung und den Modulationen sowie in der polyphonen Verflechtung der Stimmen und der Instrumentation“, prophezeit dem Werk aber abschließend: „Solange in ihm noch allzusehr, wenn auch noch so interessante, so doch willkürliche „Einfälle“ vorherrschen, so lange wird es nicht zu organischer Geschlossenheit, klarer Übersichtlichkeit und ästhetischem Ebenmaß gelangen.“ Dieses Verdikt muß freilich vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, daß dem Publikum der bis zu diesem Punkt schon durchlaufene, facetten- und entwicklungsreiche Werdegang des Komponisten (mit Ausnahme der erwähnten drei Lieder und des Triosatzes) unbekannt war, die Richtung seiner Bestrebungen und das Potential seiner Schaffenskraft also überaus schwer beurteilbar bleiben mußte.

Es ist unwahrscheinlich, daß das Werk nach dieser Premiere in seiner Urgestalt noch einmal  öffentlich aufgeführt wurde. Erst knapp anderthalb Jahrzehnte nach der Niederschrift des Stückes, am 20. März 1887, nachdem Dvořák das Werk nicht lange davor noch in einem Verzeichnis „zerrissener und verbrannter“ Kompositionen angeführt hatte, wendet er sich mit folgenden Zeilen an seinen alten Förderer Ludevít Procházka, der schon 1878 mit seiner vom legendären Bernhard Pollini als dramatischer Sopran an die Hamburger Oper engagierten Frau Marta Reissingerová dorthin übersiedelt war:

Milý příteli!

Pamatujete se ještě na onen kvintet (A dur) s klavírem, který asi před 14 lety zásluhou Vaší poprvé v Praze hrán byl?

Nemohu se nikde dopídit své partitury, jenom vím, že Vy jste si dal onen kvintet opsat a snad jej ještě máte. Kdyby tak bylo, prosil bych Vás snažně mně jej laskavě zapujčit, dal bych si jej opsat.

Nyní tak někdy rád se koukám na své staré hřichy i rád bych tento po dlouhém čase viděl.

Račte mi laskavě korespondenčním lístkem dáti zprávu.

Vam vždy oddaný
A. Dvořák

Lieber Freund!

Erinnern Sie sich noch an jenes Klavierquintett (A-Dur), das durch Ihr Verdienst vor etwa 14 Jahren in Prag zum ersten Mal gespielt wurde?

Ich kann meine Partitur nirgends auffinden, weiß jedoch, daß Sie sich jenes Quintett haben abschreiben lassen, und hoffe, daß Sie es noch haben. Falls dem so wäre, bäte ich Sie inständig, es mir liebenswürdigerweise zu leihen, damit ich es abschreiben lassen kann.

Zurzeit betrachte ich ab und zu gerne meine alten Sünden, und diese würde ich nach langer Zeit gerne wiedersehen.

Ich bitte Sie höflich, mir mittels einer Postkarte Nachricht zu geben.

Ihr Ihnen immer ergebener
A. Dvořák

Procházkas Antwort ist zwar nicht erhalten, aber die im Prager Nationalmuseum aufbewahrte Abschrift mit den 1887 von Dvořák eigenhändig vorgenommenen Änderungen beweist, daß Procházka diese 1872 für die Uraufführung angefertigte Kopie dem Autor aus Hamburg zurückgesendet hat – ein Unterfangen, das angesichts der damaligen Verläßlichkeit und Schnelligkeit der Post nicht annähernd so riskant war, wie es uns heute erscheinen mag. Das Ausmaß der in der Folge (offenbar zwischen April und Juli 1887) vorgenommenen Retouchen und Kürzungen legt nahe, daß der Vater über die erbetene Heimkehr des verlorenen Sohnes nicht restlos glücklich werden konnte. Wie tiefgreifend vor allem die formalen Eingriffe waren, läßt sich schon rein statistisch ermessen: Der in der revidierten Fassung 230 Takte lange Kopfsatz hatte in der ursprünglichen Version um wenigstens 152 Takte mehr, und auch das jetzt noch 106 Takte zählende Andante war in der Urfassung um mindestens 24 Takte länger. Daß das Finale seine volle Länge von 468 Takten behalten durfte, zeugt wohl weniger von zunehmender Milde als von abnehmendem Interesse des Komponisten-Korrektors. Irgendwann vor dem 18. August 1887 muß Dvořák dann zu dem Schluß gekommen sein, es sei besser, gleich ein ganz neues A-Dur-Quintett zu schrieben – denn an diesem Tag beginnt er in Vysoká, wo er sich schon seit der zweiten Maihälfte aufhält,  die Niederschrift seines berühmten Opus 81, das es der Nachwelt sehr schwer machen wird, jenes jugendliche Opus 5 – in welcher Gestalt auch immer – im Gedächtnis zu behalten.

Unsere heutige Aufführung folgt dem 1959 erstmals in der Dvořák-Gesamtausgabe vorgelegten gekürzten Text von 1887, weil dieser, totz des Abbruchs der Umarbeitung, den Intentionen des Komponisten und seinen ästhetischen Ansprüchen wohl näher kommt als die (ungedruckt gebliebene und nicht zweifelsfrei rekonstruierbare) Urfassung von 1872. In dieser 1887 von Dvořák liegengelassenen Gestalt ist formal vor allem der Kontrast zwischen den radikal gekürzten ersten beiden Sätzen und dem weitgehend unbearbeitet gebliebenen Finale bemerkenswert.

Dem ersten Satz (Allegro ma non troppo), dessen Form durch die Auslassung des ganzen Seitenthemenkomplexes in der Reprise besonders drastisch verknappt wurde, gibt dieser Eingriff eine fast aphoristische Erscheinung, die in einem aparten Spannungsverhältnis zu dem episch-ausladenden Gestus des Ganzen steht, gleichzeitig aber einigen auffälligen Zügen der Vorlage (wie etwa schon dem fragenden Sextakkord anstelle des dort erwarteten grundständigen Dreiklanges im zweiten und vierten Takt) ideal entspricht. Über seine harmonische Wanderlust läßt uns weder der junge noch der reife Dvořák im Unklaren: der achttaktige Eröffnungssatz des Klaviers wird von den Streichern sofort im weit entfernten G-Dur (der Wechselsubdominante) aufgegriffen und erweitert, aber nur, um uns sogleich auf eine abenteuerliche Modulationsreise zu schicken, die nur auf großen Umwegen zur traditionellen Dominante des Seitensatzes führt. Daß die rhythmische Signatur des Seitenthemas direkt aus jener des Hauptthemas entwickelt ist, hat Dvořák wahrscheinlich zu der oben erwähnten Kürzung bewogen; denn eben diese emblematische Signatur, mit der das Werk einsetzt, durchpulst den ganzen Satz ohnehin schon in ihrer Ausgangsgestalt, Diminution und Augmentation.

Das in der Submediante F-Dur stehende Andante sostenuto setzt diese tonale Drift gleich fort, indem die eröffnende (durch Verschränkung von Vorder- und Nachsatz auf 15 Takte verknappte) Periode nicht wieder nach Hause findet, sondern sich in das unwirtliche Cis-Moll (eben die Mollsubmediante von F-Dur) verirrt. Diese Verirrung wird im Klavier von einem kleinräumigen ostinaten Dreitonmotiv begleitet, dessen weitausgesponnene Wiederaufnahme unmittelbar vor der Satzmitte (Takte 43 bis 51) unwillkürlich an Janáček denken läßt. (Die Umgebung dieses Zentralteiles hat Dvořák 1887 wesentlich gekürzt.)

Das Finale (Allegro con brio) setzt (ohne die in einem solchen Falle eigentlich erwartete Spielanweisung attacca) mit der Wiederaufnahme des den vorhergehenden Satzes beschließenden F-Dur-Akkordes ein und stürmt gleich zielstrebig modulierend auf ein gedachtes Forte-Ritornell in strahlendem A-Dur zu – das freilich nicht erreicht wird, weil der ganze Impetus abrupt in ratlosem Cis-moll stecken bleibt, aus dem uns dann das verspätete A-Dur-Ritornell, aber pointiert neckisch im Pianissimo, erlöst. Bei der Wiederholung des Vorganges am Schluß einer ungewöhnlich breit ausgesponnenen (und zum Mißbehagen vieler Analytiker in der Haupttonart stehenden) Episode tritt das Ritornell dann nach völlig identer Vorbereitung in G-Dur auf, wodurch ein origineller Fernbezug zum Anfang des ganzen Werkes (Takt 9ff. des ersten Satzes) geschaffen wird. Die folgende vollständige Wiederaufnahme der Episode (nun zur neuerlichen Beunruhigung der Kritiker im völlig irrationalen B-Dur) versandet unter spielerischen Scherzando-Figurationen (in denen man Mendelssohn-Echos vernehmen mag) in einem sechs Takte lang ausgehaltenen  H-moll-Sextakkord, an den sich nach wirkungsvoller Generalpause der Aufschwung zur letzten Wideraufnahme des Ritornells schließt, dessen kapriziöse Erreichung über den Cis-moll-Umweg inzwischen keine Überraschung mehr ist. Der Rezensent der Uraufführung, der diesen Schlußsatz als „Rondo-Finale“ bezeichnete, hatte also – obwohl Dvořáks Notentext diese Bezeichnung nirgendwo enthält – nicht unrecht: Der Satz ist eines jener seit Schubert mit großer Vorliebe und wechselndem Glück geschaffenen Mischwesen aus Rondo- und Sonatenform (hier nach dem Schema ABABA). Auch wenn Dvořáks Interesse an der Umarbeitung an diesem Punkte noch nicht so lau geworden wäre, hätte er hier schwerlich einen plausiblen Weg der Verknappung finden können, ohne die unbekümmerte Vitalität des Jugendwerkes ernstlich zu gefährden. So hat die Vorsehung dafür gesorgt, daß uns in seinem „liegengelassenen“, aber doch nicht verworfenen A-Dur-Quintett der bezwingende Reichtum seiner Phantasie sowohl in der durch die erfahrene Meisterhand gebändigten als auch in seiner „ungekämmten“ Ursprünglichkeit bewahrt geblieben ist.

© Claus-Christian Schuster

Beethoven – Trio op. 1 Nr. 3

Ludwig van Beethoven
* Bonn, 16.(?) Dezember 1770
† Wien, 26. März 1827

Trio Nr. 3, c-moll, op. 1 Nr. 3
komponiert: Wien, etwa 1793
Widmung: Fürst Carl von Lichnowsky (1761-1814)

Uraufführung: Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6), vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
(?) Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
(?) Anton Kraft (1749-1820), Violoncello

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1795

Von den drei Trios des emblematischen Opus 1, mit dem Beethoven in beispielloser Selbstsicherheit die Bühne der Musikgeschichte betritt, ist das dritte wahrscheinlich das populärste und zweifellos das am meisten gespielte. Beethoven selbst hielt es für das beste Stück der Reihe und war daher über die Skepsis, mit der Haydn bei der Uraufführung gerade diesem Werk begegnete, gekränkt. Es ist nicht zu leugnen, daß dieses Trio sich von seinen beiden Schwesterwerken auf ganz bezeichnende Weise unterscheidet: Es ist noch reicher an einprägsamen motivischen Details und instrumentatorischen Effekten, klanglich noch raffinierter und noch dichter übersät mit Überraschungen aller Art. Gerade diese qualitativen Unterschiede könnten aber vielleicht Haydns Reaktion verständlich machen ( – Haydns in diesem Zusammenhang oft ins Spiel gebrachte „Eifersucht“ ist ein so abstruses Motiv, daß es sich gar nicht erst lohnt, darauf näher einzugehen). Beethoven hat mit diesem Werk nämlich ganz offensichtlich ein Ziel verfolgt, das weit außerhalb der Lebens- und Erfahrungssphäre Haydns lag: Während die beiden vorausgehenden Trios der musikalischen Naturpoesie Haydns mit ihrem organischen Ablauf gar nicht ferne stehen, ist dieses abschließende – und nach Beethovens unmißverständlicher Absicht auch krönende – Werk ein zutiefst subjektives, von erschütternder Tragik geprägtes Bekenntniswerk, in dem der Tondichter rückhalt- und schonungslos bis an die Grenzen des Mitteilbaren vordringt. Das lebensspendende Gottvertrauen, unter dessen mildem Klima der ganze überreiche Kosmos der Haydnschen Kammermusik gedeiht und einen so unerschöpflichen Reichtum an originellen Organismen hervorbingt, hier scheint es in einem aussichtslosen Überlebenskampf verdunkelt, ja verloren – und die beiden Momente, wo dieses kindliche und bedingungslose Vertrauen als ferne Ahnung oder wehmütige Erinnerung wieder auftauchen möchte, wirken vor der Folie dieses existenziellen Kampfes als idyllische, ephemere Selbsttäuschung (der zweite Satz) oder gar als dadaistischer Ulk (das Trio des Menuetts), der die schicksalhafte Ausweglosigkeit nur noch schmerzlicher hervortreten läßt. Daß ein Werk von so kompromißloser Radikalität und bestürzender Gedrängtheit Fassungslosigkeit, ja Entsetzen hervorrufen mußte, erscheint ganz unausweichlich. Weit erstaunlicher und bedenklicher dünkt mich, daß heute dieses Grauen im Regelfall genießerischem Fußwippen und einer allwissenden Kennermiene gewichen ist; jedenfalls scheint die Popularität des Werkes zu einem nicht geringen Teil auf einem fundamentalen und verharmlosenden Mißverständnis zu beruhen.  Denn wenn man erst einmal die tragische Heterogenität und die dramatische Spannung der hier verarbeiteten Ideen und Klangbilder erkennt, wird man nicht so sehr die Sicherheit und Kühnheit, mit der Beethoven alle diese widersprüchlichen Elemente zu einem zwingenden und überzeugenden (wenn auch bestürzenden) Ganzen zu einen weiß, bewundernd bestaunen, sondern viel eher vor der Erschütterung, die ein so schonungsloses Bekenntnis hervorruft, jede wertende und „wissende“ Attitude aufgeben.

Schon die Exposition des ersten Satzes (Allegro con brio, c-moll) bietet uns ein Schauspiel widersprüchlichster Gefühle und Regungen: Verirrung und banges Zögern, atemloses Drängen und zorniges Zupacken, seliges Schweben und frenetisches Stürmen – alles ist hier zu finden und auf die originellste Weise miteinander verwoben. So verwandelt sich etwa der beklemmt fragende Doppelschlag des Kopfmotivs unvermutet zu einem nervig dahinstürmenden Motiv, während andererseits das nervöse Agitato des Hauptthemas bei seiner überraschenden Wiederaufnahme in der Coda plötzlich als gutgelauntes Scherzando erscheint. Gerade dieser Kontrast bildet den Kern der Durchführung, die durch eine Reihe frappanter Modulationen eingeleitet wird. Höchst beeindruckend ist auch der dramatische Umgang mit dem traditionellen Orgelpunkt auf der Dominante vor der Reprise: zweimal versucht das Cello allein die Erstarrung zu durchbrechen und wird jedesmal mit einer herrischen Geste zurückgedrängt. Die Reprise ist gegenüber der Exposition tiefgreifend verändert, auffälligstes Detail ist eine auf den Beginn der Durchführung zurückgreifende harmonische Ausweitung, die das Kopfthema für wenige Augenblicke in Durbeleuchtung erscheinen läßt; der Schluß nimmt noch einmal das wirkungsvolle Szenario der Reprisenvorbereitung auf und entläßt uns in mit grimmigen Dissonanzen durchsetzten c-moll.

In größtem Kontrast zu diesem Satz steht das folgende Andante cantabile con Variazioni (Es-Dur). Rein äußerlich entspricht es einem bei Beethovens Vorgängern sehr beliebten Muster (Thema, fünf Variationen, Coda). Das Thema selbst ist von größter Schlichtheit; es besteht aus zwei Achttaktern, die zuerst jeweils vom Klavier alleine und dann unter Führung der Geige von allen drei Instrumenten vorgestellt werden. Da in den Klaviersoli die Baßlinie zunächst ausgespart bleibt, entsteht der Eindruck, als sei die erste Variation gewissermaßen schon im Thema selbst enthalten. In der Folge wechselt immer eine vom Klavier und eine von den Streichern dominierte Variation ab, so daß der ganze Satz von großer Klangfarbenausgewogenheit ist. Das sukzessive Fortschreiten zu immer kleineren Notenwerten (Variationen I-III) hat Beethoven bis hin zu den späten Klaviersonaten beibehalten und weiterentwickelt; die Technik erscheint aber schon hier mit großem Raffinement angewendet, da Beethoven – im Unterschied zu seinen Vorgängern – die Beschleunigung der Bewegungsart nicht mit den Anfängen der Variationen zusammen fallen läßt, sondern mit gleitenden Übergängen und Vorwegnahmen arbeitet. Das Hauptaugenmerk gilt jedoch der metrischen Interpretation des Themas – das Spiel mit abwechselnd betonten und fallengelassenen, vorgezogenen und verspäteten Auftakten ist nicht nur überaus kunstreich, es steht auch in einer sehr aparten Spannung zu der scheinbaren Simplizität des Themas. Erst die innige Minore-Variation (IV) rekapituliert die metrische Urgestalt des Themas, die dann in der letzten Variation (Un poco più Andante) von zierlicher Chromatik umspielt wird. Das Ende dieser Variation und die Coda sind vielleicht der berührendste Moment des Satzes: viermal mündet die Kadenz in einen Trugschluß, um schließlich den Weg zu einer wundervoll ausgekosteten Rückkehr in das heimatliche Es-Dur freizugeben. (Die allerletzten Takte dieser Coda hat Beethoven übrigens in seiner Bagatelle C-Dur op. 119 Nr. 2 zu einem eigenen kleinen Stück ausgeweitet.)

Wer gemeint hätte, daß Beethoven mit zwei so antithetischen Sätzen seine Möglichkeiten zu dramaturgischen Überraschungen erschöpft habe, wird in den folgenden beiden Sätzen eines Besseren belehrt: der dritte Satz erstaunt zunächst schon einmal durch seine Bezeichnung (Menuetto. Quasi allegro, c-moll). Die beiden Schwesterwerke bringen an dieser Stelle ein Scherzo – und der kulturgeschichtliche Hintersinn der Verdrängung des Menuetts durch das Scherzo wird ja gemeinhin als konstitutiv für die „nachrevolutionäre“ Musik angesehen. Warum finden wir also gerade in diesem Werk, das den Zeitgenossen so besonders revolutionär erschien, einen solchen Rückgriff? Nun, schon die relativierende Tempobezeichnung macht klar, daß der Rückgriff nur ein scheinbarer ist. Vom bärbeißigen Humor der Haydnschen oder der tänzerischen Eleganz der Mozartschen Menuette ist keine Spur mehr zu finden, die Stimmung ist unruhig, verunsichert, mit jähen Stimmungsbrüchen, die sich auch in der zerklüfteten Dynamik des Satzes widerspiegeln: jähe Fortissimoschläge durchzucken das verhaltene Piano, das zwischen nervöser Beklemmung und scheinbarem Frohsinn irisiert. Nur das Trio entläßt uns auf einige Takte in eine verspielte C-Dur-Rokokowelt – es tut dies aber mit soviel Witz, daß der ironische (oder bitter-wehmütige?) Unterton gar nicht zu überhören ist.

Der Beethoven-Liebhaber, der beim Erscheinen der Tonart c-moll sofort an die Pathétique und die V. Symphonie denkt, kann im letzten Satz (Finale. Prestissimo, c-moll) in Assoziationen schwelgen. Ein „typischerer“ Beethoven-Satz läßt sich auch wirklich schwer denken. Die Metamorphose, die das Ausgangsmaterial dieses Satzes durchgemacht hat – das Thema erscheint zuerst in einer Skizze zum Menuett des Bläseroktetts op. 103 (1792) – ist, wie so oft bei Beethoven, von unglaublicher Radikalität. Der zupackende Elan, die leidenschaftliche Unruhe und das hymnische Feuer – alle zentralen Topoi der Beethovenschen Musik sind in diesem Satz vereint. Die Sonatenhauptsatzform ist hier etwas regelmäßiger, doch um nichts weniger phantasievoll behandelt als im ersten Satz. Wirklich erschütternd ist die ausgedehnte Coda, die alle Finalerwartungen enttäuscht: das Thema wird seiner Motorik beraubt, stockt, fällt kraftlos um einen Halbton nach h-moll und mündet schließlich in den wie in tiefer Betäubung endlos wiederholten Vorhalt des-c. Das abschließende C-Dur ist fahl und erschöpft – von konventioneller Versöhnlichkeit findet sich auch nicht die leiseste Spur. Es gibt in der ganzen Musikliteratur nur ganz wenige Mollsätze, die auf so hoffnungslos tragische Weise in Dur schließen, und in den wenigen vergleichbaren Fällen scheint meist gerade dieser paradigmatische Satz Modell gestanden zu haben (so etwa im Finalsatz des dritten Klavierquartetts, op. 60, c-moll, von Johannes Brahms).

Wie hoch Beethoven selbst dieses Trio schätzte, läßt sich daran ersehen, daß er noch im August 1817 eine – übrigens nicht nur sehr gelungene, sondern auch für die Beantwortung einer ganzen Reihe textlicher Unklarheiten höchst hilfreiche –  Bearbeitung des Werkes für Streichquintett vornahm und diese zwei Jahre später als op. 104 veröffentlichen ließ.

© Claus-Christian Schuster

Beethoven – Trio op. 1 Nr. 2

Ludwig van Beethoven
* Bonn, 16.(?) Dezember 1770
† Wien, 26. März 1827

Trio Nr. 2, G-Dur, op. 1 Nr. 2
komponiert: Wien, etwa 1793
Widmung: Fürst Carl von Lichnowsky (1761-1814)

Uraufführung: Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6), vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
(?) Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
(?) Anton Kraft (1749-1820), Violoncello

Erstausgabe: Artaria, Wien, Oktober 1795

Unter den drei Werken von Beethovens Opus 1 nimmt das G-Dur-Trio nicht nur formal die zentrale Stellung ein: Es ist das Herzstück des ganzen Zyklus. Das schlägt sich schon rein äußerlich darin nieder, daß es länger ist als seine beiden Schwesterwerke, und daß Beethoven hier das einzige Mal die epische Eröffnungsform der langsamen Einleitung wählt, zu der er in seinem ganzen Trioschaffen nicht mehr zurückkehren wird. Darüber hinaus aber spiegelt sich die Zentralstellung dieses Werkes auch in der dramaturgischen und stilistischen Gesamtanlage des Opus: wenn man in Nr. 1 (Es-Dur) die transzendierende Zusammenfassung der Erfahrungen Haydns und in Nr. 3 (c-moll) die Quintessenz der Charakteristika des frühen Beethoven sehen kann, so mutet einen das G-Dur-Trio wie ein träumerisches Spiel mit den Möglichkeiten der Zukunft an. Nicht zufällig gehören zu den Assoziationen, die sich beim Anhören dieses Werkes fast zwangsläufig einstellen, so weit auseinanderliegende Phänomene wie Schubert und Rossini – beides Komponisten, die zur Zeit der Niederschrift dieses Trios entweder noch nicht geboren waren oder gerade erst in den Windeln lagen, und deren Werk exemplarisch die ganze Amplitude der Musik des ersten Drittels des XIX. Jahrhunderts repräsentiert.

Wie sorgfältig geplant die Abfolge der drei Werke des Beethovenschen Opus 1 ist, erahnt man schon, wenn man die Schlußtakte des Es-Dur-Finales von op. 1 Nr. 1 etwas näher betrachtet: Man findet hier sehr willkürlich erscheinende, „antimetrische“ (und deshalb umso auffälligere) Sforzati auf den Noten G und D – also auf Tonika und Dominante des nachfolgenden Werkes. Sollte uns Beethoven hier auf eine Verbindung zwischen diesen beiden Werken aufmerksam machen? Wirklich stellt sich hier heraus, daß der Beginn des ersten Satzes (Adagio, G-Dur) von op. 1 Nr. 2 nichts anderes als eine Metamorphose des Incipits von op. 1 Nr. 1 ist (die ersten beiden Takte sind, transponiert und rhythmisch modifiziert, notenident mit der analogen Stelle des Es-Dur-Trios): Es ist eine Metamorphose ins traumhaft Spielerische, versonnen Graziöse. Wer nun, neugierig geworden, zu den letzten Seiten dieses Satzes vorblättert, findet als Eröffnung der Coda (Takte 398 bis 405) eine im Pianissimo bedeutungsvoll präsentierte Kadenz, die von G-Dur über Es-Dur nach c-moll führt, die Toniken der drei Trios also einander begegnen läßt. Purer Zufall? Wohl nicht. Kaum aber auch Ergebnis einer ausgeklügelten „strategischen“ Planung – sondern eher, und weit wunderbarer, der organische Niederschlag eines überragenden schöpferischen Instinktes, dessen Wirken auf die Einheit in der Vielfalt gerichtet ist. Diese ganz unangestrengt auftretende Fähigkeit, Zusammenhänge zu schaffen und zu wahren, manifestiert sich auch in der Beziehung zwischen Einleitung und Hauptteil: Der Themenkopf des folgenden Allegro vivace durchzieht die Introduktion ebenso wie dessen charakteristische Verzierungen, sodaß trotz des großen Stimmungs- und Tempokontrastes die Einheit zwischen den beiden Teilen niemals gefährdet ist. Der Hauptteil selbst ist ein sehr ausgedehntes und vielgliedriges Sonaten-Allegro, das die Sphäre des übermütig Neckischen und spielerisch Anmutigen ganz auskostet und fast nie verläßt. Es ist, als würde – mit einem Unterton romantischer Ironie – aller galanter Zauber des vorrevolutionären XVIII. Jahrhunderts noch ein letztes Mal zusammenfassend und beschließend aufgeboten.

Doch schon der zweite Satz (Largo con espressione, E-Dur) entführt uns in eine völlig andere Welt: Es ist sicher kein Zufall, daß Beethoven hier das einzige Mal in seinem Opus 1 das „klassische“ Muster der Tonartenbeziehungen in mehrsätzigen Werken aufgibt und eine fernliegende, „romantische“, „schubertische“ Tonart aufsucht. Wenn man weiß, wie bewußt Beethoven mit Tonartencharakteristik umgeht, und welche klangsinnliche Realität vor der Etablierung der „modernen“, gleichschwebenden Temperatur (deren erklärter Gegner Beethoven zeitlebens geblieben ist) mit dieser Charakteristik verbunden war, so wird man diesem Détail mehr Gewicht geben müssen, als es gemeinhin geschieht. (Und es ist Beethoven selbst, der uns in dieser Ahnung bestärkt: Im südländisch ausgelassenen Finale wird er uns, ganz zu Beginn der Durchführung, noch einmal auf dieses E-Dur-Terrain zurücklocken…) Jedenfalls ist dieses Largo auch in dem an Höhepunkten nicht eben armen Œuvre Beethovens eine Sternstunde: Was hier an Innigkeit, Tiefe und Sammlung erreicht ist, entzieht sich weit über das normale Maß hinaus der Be- und Umschreibung.

Das Scherzo (Allegro, G-Dur) gehört zu einem Satztypus, den der frühe Beethoven besonders liebte und um immer neue Varianten bereicherte: das Scherzo op. 1 Nr. 1 gehört ebenso hierher wie etwa das Scherzo der Klaviersonate C-Dur op. 2 Nr. 3. Gemeinsam ist all diesen Sätzen die Entwicklung aus einem prägnanten, einstimmigen Motto, das Anlaß und Ausgangspunkt für kontrapunktische

Kabinettstücke ist, wobei sich der gute, etwas bärbeißige Humor, der all diesen Sätzen eigen ist, oft in derben und eigensinnigen Akzentuierungen niederschlägt; die „Flächigkeit“ der Trios gehört ebenso zum Erscheinungsbild dieses Satztypus wie die in die Stille zurückführende, das Motto „rückentwickelnde“ Coda, die oft (so auch hier) mit einer Rücknahme des Tempos verbunden ist.

Das Finale (Presto, G-Dur) greift die ersterbenden Schlußakkorde dieser Coda mit mutwilligem Elan auf: Dieser Satz konnte mit seinem leutseligen Übermut und seiner ansteckenden Gutgelauntheit auch für den Buffo-Großmeister Rossini ein inspirierendes Vorbild sein, und es ist nicht zu überhören, daß der volkstümliche und absichtsvoll naive (aber nie primitive) Witz dieser Musik auch noch in manchen Geschwindmärschen der Strauß-Dynastie nachklingt. Wieviele solcher Sätze hätte Beethoven eigentlich schreiben müssen, um das monochrome Devotionalienbild des finster dahinschreitenden Titanen als verflachende Fiktion bloßzustellen?

© Claus-Christian Schuster