Wenige Szenen der Musikgeschichte haben so nachhaltig die Phantasie des hörenden und schreibenden Publikums beschäftigt wie das Zusammentreffen zwischen dem Ehepaar Schumann und dem jungen Johannes Brahms. Das Erscheinen des jungen Genies im Hause an der Bilker Straße am 30. September 1853 mit allen anekdoten- und legendenhaften Details ist unverzichtbarer Bestandteil der biographischen Literatur rund um Robert, Clara und Johannes. Die an sich schon romanhaften Züge dieser Begegnung werden zum Ausgangspunkt von weit über Brahms´ ersten Düsseldorfer Aufenthalt hinausgehenden rhapsodischen Spekulationen. Die begeisternde Dreisamkeit im Hause Schumann, die das Bild weiternde F.A.E.-Episode mit Joachim und Dietrich, das Zusammentreffen mit Bettina und Gisela von Arnim, Joachims Liebe; Roberts Artikel „Neue Bahnen“; die Geschichte von Roberts Violinkonzert, der Besuch in Hannover bei Brahms und Joachim, Claras Eifersucht auf Wilhelmine Clauß… Allein in den Fakten steckt schon ein ansehnlicher Roman, wer wollte das leugnen?
Doch das zunächst unschuldige Spiel der Phantasie ist gefährlich. In einer 1990 erschienenen Biographie Clara Schumanns liest man – die Rede ist von der Heimreise der Schumanns aus Hannover am 30. Jänner 1854 – :
„Auf dieser Rückfahrt muß es zu einer furchtbaren Auseinandersetzung gekommen sein – das Finale einer Ehe. Vielleicht hatte Clara behauptet, Joachim sei nur zu vornehm gewesen, auszusprechen, was ihm überdeutlich im Gesicht gestanden habe, daß nämlich das Violinkonzert Spuren des Irrsinns erkennen lasse [,] und es für Robert Zeit sei, seinen Platz für Johannes Brahms freizumachen.“
Ay, there´s the rub!
Kurzentschlossen hat die Autorin Claras Stelle eingenommen, Claras Zweifel durch ihre eigene holzschnitthafte Überzeugung ersetzt. Ihre teleologische Ungeduld drängt auf einen möglichst raschen und gnadenlosen Machtwechsel: Le roi est mort. Vive le roi! Die Rollen sind klar verteilt: Es ist Saul und David, nicht etwa David und Abschalom; und nur eine unerwartet große Zurückhaltung der Autorin bewahrt uns davor, daß der schwermütige Schumann in kraftloser Abwehr einen Speer nach Brahms wirft.
Schumann soll seinen Platz für Brahms frei machen. Man muß der Autorin für die Präzision dieses vulgärdarwinistischen Bildes dankbar sein. Schumann und Brahms haben darin nicht ihre eigenen Plätze, sondern sind Vorgänger und Nachfolger auf dem langen Weg, der – man ahnt es schon – von Perotinus Magnus zu Pierre Boulez führt. Nicht zufällig hat die neuere Schumannliteratur in ihrem Bemühen, das Spätwerk Schumanns zu „rehabilitieren“, immer wieder die Kompositionstechniken der Zweiten Wiener Schule zum Vergleich herangezogen: wenn sich in den letzten Werken Schumanns Vorahnungen dieser „fortschrittlichen“ Techniken aufspüren lassen, so das Kalkül, dann ist Schumanns Ehre gerettet, denn dannn hat er zur Weiterentwicklung der Musik auch dort beigetragen, wo er die Wirkung der „Träumerei“ verfehlt hat.
Je matter und kraftloser Schumann erscheint, desto erschütternder wirkt der Gruß, den er Brahms in den „Neuen Bahnen“ entbietet. Am besten macht man aus dem dreiundvierzigjährigen Schumann gleich den greisen Simeon und liest mit andächtiger Rührung: „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ Nichts würde der rührselig-theatralischen Stimmigkeit der Szene, die gut in den hagiographischen Kanon der Nazarener passen würde, mehr schaden als die unwillkommene Entdeckung, daß Meister Robert noch einen Weg vor sich hatte, als er entschied, ihn nicht mehr zu beschreiten.
Hier ist die Quelle einer der infamsten Legenden der Musikgeschichte: jener vom kontinuierlichen Verfall der schöpferischen Kräfte Robert Schumanns während seiner Düsseldofer Jahre. Felix Draesekes begierig aufgegriffenes Wort, Schumann habe als Genie begonnen und als Talent geendet, gibt dieser falschen Perspektive den richtigen Rahmen. Wie so oft hat auch im Falle Robert Schumanns die Biographie über das Werk gesiegt: das Bild des im geblümten Schlafrock an den ausgelassenen Karnevalsumzügen vorbei auf die Rheinbrücke eilenden Komponisten ist eben so einprägsam, daß Publikum und Interpreten in einmütiger Andacht kaum die Augen davon wenden können. Die Ohren scheinen dann nur mehr wahrzunehmen, was wir vor unserem geistigen Auge gesehen zu haben glauben – und da gibt es auch in der Musik plötzlich überall unübersehbare Spuren der herannahenden Katastrophe.
Nun soll freilich nicht geleugnet werden, daß es einen engen, ja unauflösbaren Zusammenhang zwischen Leben und Werk gibt. Aber dieser Zusammenhang läßt sich kaum je auf eine simple Widerspiegelung des Lebens im Werk zurückführen. Dem Leben des schöpferischen Menschen und der Gesellschaft, der er angehört, tritt im Werk des Künstlers eine Gegenwelt gegenüber, die ihre materielle und konkrete Basis niemals verleugnen, aber immer – denn das gehört zum Wesen und Ziel des Künstlerischen – hinter sich lassen kann. Es ist daher durchaus nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß die letzten Schaffensjahre Schumanns vor dem gesellschaftlichen Hintergrund einer gescheiterten Revolution und dem persönlichen einer fortschreitenden Krankheit ablaufen; aber es ist unsinnig (um nicht zu sagen: verbrecherisch), Schumanns nach 1849 entstandene Werke als melancholisch-resignative Grisaillen eines seine Gestaltungskräfte schrittweise verlierenden Geisteskranken abzutun.
Daß dieser Unsinn so beharrlich vertreten wird – in den letzten Jahrzehnten immer wieder auch von Schumann-„Apologeten“ – hängt mit der verzeihlichen Unfähigkeit von Schumanns Zeitgenossen zusammen, die kompositorische Entwicklung seiner letzten Schaffensjahre nach Wesen und Bedeutung zu erfassen. Clara, die zuletzt auch vor der Vernichtung von ihr mißlungen erscheinenden Spätwerken nicht zurückschreckte ( – 1893 verbrannte sie Schumanns letztes Kammermusikwerk, die Anfang November 1853 komponierten Fünf Romanzen für Violoncello und Klavier – ), ist an der Rezeptionsmisere sicher nicht unbeteiligt. An ihrem Beispiel läßt sich aber auch recht gut erkennen, wie sehr die Kenntnis der Lebensgeschichte auf die Beurteilung des Werkes abfärbt: Als sie im November 1851 die eben entstandene monumentale zweite Violinsonate (d-moll, op.121) kennenlernt, findet sie sie „von einer wunderbaren Originalität und einer Tiefe und Großartigkeit, wie ich kaum eine andere kenne, – das ist wirklich eine ganz überwätigende Musik.“ Dreißig Jahre später, bei der Lektüre von Philipp Spittas 1882 erschienener Schumann-Biographie, notiert sie, trotz ihrer Einwände gegen Spittas pauschal negative Bewertungen: „…der erste Satz der D-moll-Sonate hat etwas rhythmisch Peinliches.“
So konnte und mußte das Bild entstehen, Schumann habe sich selbst, während er die „Neuen Bahnen“ seines jungen Freundes segnete, heillos im dürren Gestrüpp grüblerischer Unfruchtbarkeit verrannt; der Eichendorffsche Fernen verheißende Waldweg, auf dem seine alte Bahn verlaufen war, habe sich nach und nach im weglosen Unterholz verloren. Kaum ein Schumannbuch, in dem einem nicht, vereinzelt oder summarisch, Andeutungen und Urteile dieser Art begegnen. Dabei gibt es ein einfaches (und heute leichter denn je anzuwendendes) Mittel, diese Sicht kritisch zu überprüfen: man höre sich alle Kompositionen jener „Zeit, wo Schumann´s Werke die verhängnißvolle Zahl 100 überschritten hatten“ (Hanslick), aufmerksam und unvoreingenommen an – und urteile dann, ob das wirklich nur die Spur eines Verirrten ist, oder ob sich hier nicht vielleicht ein noch unbeschrittener Weg öffnet.
Muß man wirklich in die Irre gegangen sein, um im Irrenhaus zu enden?