Hans Pfitzner
* 5. Mai 1869 Moskau
† 22. Mai 1949 Salzburg
Sonate für Violine und Pianoforte, E-moll, op. 27
komponiert: Straßburg, Anfang Jänner – 25. Mai 1918
Widmung: Kongl. Svenska Musikaliska Akademien (Kgl. Schwedische Akademie der Musik)
Uraufführung: München, Konzertsaal des Hotels „Vier Jahreszeiten“, 25. September 1918
Felix Berber (1871-1930), Violine
Hans Pfitzner, Klavier
Erstausgabe: Peters, Leipzig, 1918
Nach seinem Fortgang aus Berlin hatte Pfitzner – nach einem kurzen Münchener Intermezzo – mit Beginn der Saison 1907/08 die Leitung der Konzerte des Städtischen Orchesters von Straßburg (heute Orchestre Philharmonique de Strasbourg) übernommen. Im April 1908 war die ganze Familie – das Ehepaar Pfitzner, der fünfjährige Sohn Paul und der eineinhalbjährige Sohn Peter – in die elsässische Hauptstadt übersiedelt, die damals knapp 200.000 Einwohner zählte.
Das Musikleben der Stadt war mit demjenigen Berlins natürlich nicht zu vergleichen; aber Straßburg bot Pfitzner Perspektiven, von denen er in Berlin nicht träumen konnte. Obwohl er dazu keine wirkliche Berufung empfand, übernahm er zusätzlich zur Leitung des Orchesters auch die Direktion des städtischen Konservatoriums, was ihm die Möglichkeit gab, das Musikleben der Stadt weitgehend nach seinen künstlerischen Vorstellungen zu gestalten. Was er hier in den elf Jahren seiner Tätigkeit leistete, ist in jeder Hinsicht bemerkenswert – und widerlegt eindrucksvoll die primitiven Klischees vom geltungssüchtigen Egozentriker und verblendeten Nationalisten Pfitzner: Während er sein eigenes Werk überaus stiefmütterlich behandelte, brachte er eine Vielzahl französischer Werke sowie Kompositionen seiner „Konkurrenten“ Mahler, Strauss, Reger und Busoni zur Aufführung. Unter den jungen Dirigenten, die er nach Straßburg holte, waren Wilhelm Furtwängler, Otto Klemperer und George Szell. Natürlich nützte er die sich ihm jetzt eröffnenden Möglichkeiten aber auch, um alte Dankesschulden abzutragen – zu den ersten Solisten, die er verpflichtete, gehörte sein Jugendfreund Heinrich Kiefer…
Niemals zuvor und niemehr danach war Pfitzners Leben so erfüllt. Die Vielzahl seiner organisatorischen und interpretatorischen Aufgaben und Pflichten wirkte sich dabei auf sein Schaffen nicht hemmend, sondern anregend aus: Zwar ist die Anzahl der in Straßburg entstandenen Werke deutlich geringer als die seines Berliner Jahrzehnts, aber ohne Zweifel bildet die Ernte dieser Jahre den Höhepunkt des Pfitznerschen Schaffens. Und wenn man nicht wüßte, daß dem Genie schematische Überlegungen dieser Art fremd sind, könnte man auf den Gedanken kommen, Pfitzner habe seine kompositorische Produktion „dramaturgisch“ geplant: Genau wie in den Jahren 1890-1896 umrahmen nämlich zwei programmatische und gedankentiefe große Kammermusikwerke die in jeder Hinsicht im Zentrum stehende Oper – dem Opus 1 entspricht gleich zu Beginn des Straßburger Aufenthaltes das monumentale, dem Freund Bruno Walter gewidmete Klavierquintett op.23 (1908), dem Opus 8 die den Abschluß dieses Lebensabschnittes bezeichnende Violinsonate op.27 (1918), und dem jugendlichen Geniestreich des Armen Heinrichs steht hier das opus summum des reifen Meisters, der unsterbliche Palestrina gegenüber.
Die Konzeption dieser Meisteroper geht allerdings wirklich auf die Mainzer Jahre Pfitzners zurück: 1895 war der junge Komponist beim Studium der (unvollendet gebliebenen) Musikgeschichte des Prager Davidbündlers August Wilhelm Ambros (1816-1876) auf das ihn seither nicht mehr loslassende Sujet gestoßen. (Zwischen dem Autor und seinem empfänglichen Leser scheint eine gewisse Affinität bestanden zu haben: Ambros, dessen Leistung als Kulturhistoriker die seines berühmteren jüngeren Freundes Eduard Hanslick bei weitem übertrifft, hat als Komponist nicht nur – wie Pfitzners Idol Schumann – eine Oper auf die Tiecksche „Genoveva“ geschrieben, sondern auch, wie später sein aufmerksamer Adept, Musik zu Kleists „Käthchen von Heilbronn“.)
Nach mehreren gescheiterten Versuchen, sich ein Libretto zu beschaffen, wagte sich Pfitzner 1909 selbst an die Dichtung. In frappanter Übereinstimmung mit seinen programmatischen Schriften über das Wesen des „Einfalls“ bildeten dabei Palestrinas Schlußworte:
Nun schmiede mich, den letzten Stein
An einem deiner tausend Ringe,
Du Gott – und ich will guter Dinge
Und friedvoll sein.
die Keimzelle, aus der und um die sich die dichterische Gestalt des Werkes nach und nach entwickelte. Das 1911 nach intensivem Quellenstudium vollendete Textbuch hat so unbestreitbare literarische Qualitäten, daß es sogar den kritischen Otto Klemperer – dessen Verhältnis zu Pfitzner einigermaßen im Dunklen liegt – an Goethe erinnerte, und Thomas Mann, der mit diesem Adelsprädikat nicht eben freigiebig war, es als „Dichtung“ anerkannte.
Am 1. Jänner 1912 begann Pfitzner mit der Niederschrift der Musik:
„Du sagtest früher einmal, man sollte das, was in genialen oder erleuchteten besonderen Momenten man erkennt, in anderen, gewöhnlichen eben durchführen; darin bestehe eben die vernünftige Richtschnur des Lebens. Dem stimme ich sehr bei. Wenn ich das machen will, muß ich mich von Mimi trennen, das muß die Ausbeute aus dem furchtbaren Zusammenbruch sein, den ich jetzt erlebe – er soll nicht umsonst sein. […] Ich bin körperlich so schwach und geistig so entschlossen, wie ich es nie war. Gestern, am 1. Januar, schrieb ich die ersten ernstlichen Noten am Palestrina. Ich will ihn schreiben. Daran möchte ich mich nicht hindern lassen.“
(an Paul Nikolaus Cossmann, 2. Jänner 1912)
Mimi verläßt mit den Kindern – Pauli, Peti, und der 1908 geborenen Agnes, genannt Agi – das Haus; die Krise ist zwar nicht von langer Dauer, aber die Komposition belastet den Meister und seine Familie auch weiterhin bis zum Äußersten. Um das Werk, in dem er schon lange vor der Realisierung sein Hauptwerk erkannt hat, fertigstellen zu können, läßt Pfitzner sich in der Spielzeit 1914/15 von Oper und Konservatorium dispensieren; am 17. Juni 1915 kann er dann endlich den Schlußstrich unter den Palestrina setzen.
Die ungeheure Willensanspannung, die für diese Leistung notwendig war, hinterläßt ihre Spuren: In den zwei Jahren bis zur Uraufführung des Werkes, die am 12. Juni 1917 zu Beginn einer Pfitzner-Woche am Münchner Prinzregententheater unter der musikalischen Leitung von Bruno Walter stattfindet, schreibt Pfitzner nur einige wenige Lieder (op. 25-26).
Für Thomas Mann wird Palestrina zum Schlüsselerlebnis. Das Bekenntnis zu Pfitzner, dem er einen eigenen Abschnitt in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) widmet, ist der Ausgangspunkt einer ebenso intensiven wie ephemeren Freundschaft. Als der Münchner Pfitzner-Freund Otto Deiglmayr im September 1917 unter dem Eindruck des Palestrina den Plan zur Gründung eines Pfitzner-Vereines faßt, gehört Thomas Mann bald zu seinen Verbündeten: Der Aufruf, mit dem der „Hans-Pfitzner-Verein für deutsche Tonkunst“ wenig später an die Öffentlichkeit tritt, stammt aus seiner Feder.
Aber auch außerhalb Deutschlands wird Pfitzners Meisteroper als ein Manifest jener Humanität begriffen, die auch die wüstesten Verirrungen einer im Vernichtungskrieg versinkenden Welt überdauern kann. Unter Bruno Walters Leitung unternimmt die Münchner Oper im vierten Kriegsjahr eine Tournee in die neutrale Schweiz, wo das Werk in Zürich, Basel und Bern mit überwältigendem Erfolg aufgeführt wird. Wenige Monate nach der Münchner Uraufführung ernennt die Königliche Schwedische Akademie für Musik (mit Dekret vom 30. Oktober 1917) Pfitzner zu ihrem Ehrenmitglied. (Die Pfitzner überreichte Urkunde trägt die Unterschriften von Karl Silverstolpe, einem Vertreter jener kulturhistorisch illustren Familie, der auch der mit Haydn in dessen letzten Lebensjahren befreundete Diplomat Frederik Samuel Silverstolpe angehörte, und des Sekretärs der Akademie, eines außerhalb Schwedens so gut wie unbekannten Komponisten, dessen Name den künftigen Wahlmünchner später vielleicht einmal heimatlich anmuten sollte: Karl Valentin…)
Und so finden wir Pfitzner am ersten Tag des Jahres 1918, wie sechs Jahre zuvor, wieder über dem Beginn eines neuen Werkes: einer als Dankesgabe für die Schwedische Akademie bestimmten Kammermusik. Daß er mit diesem neuen Werk bewußt eine Entwicklungslinie weiterführt, die an das Quintett von 1908 anknüpft, äußert sich auch darin, daß er es vom Anfang an dem Verlag Peters zugedacht hat, wo auch das Opus 23 erschienen war: Schon wenige Tage nach Kompositionsbeginn schreibt er an Henri Hinrichsen (1868-1942), seit 1900 Alleininhaber des Traditionsverlages (der fast gleichzeitig mit Pfitzners bestem Freund Paul Nikolaus Cossmann in Theresienstadt umkommen sollte), er sei „das erste Mal seit dem Klavierquintett wieder mit einem Kammermusikwerk beschäftigt bin und zwar mit einer Violinsonate“ (10. Jänner 1918). Aber erst einige Monate später kann er dem selben Adressaten den Abschluß des ersten Satzes melden und fährt dann fort:
Was die Sonate selbst anbetrifft, so kann ich natürlich über die Musik selber nichts sagen. Es werden drei Sätze werden; vermutlich, da der erste Satz ziemlich umfangreich ist, von beträchtlicher Ausdehnung.
Wenn Sie es für praktisch halten, möchte ich den ersten Satz gleich nach evtl. Vertragsabschluß gesondert einschicken, damit er womöglich sofort in Druck kommt und nachher die Drucklegung nicht überstürzt zu werden braucht. Ich möchte aber gerne vorher den Satz, wie auch nachher die andern Sätze[,] erst mit Professor Berber einmal durchspielen, um die Violinmäßigkeit voll zu erproben und die Bezeichnung möglichst genau zu machen. Ich werde dazu wahrscheinlich Ende April in München Gelegenheit haben.
(an Henri Hinrichsen, 5. April 1918)
Zu diesem Zwecke hält sich Pfitzner vom 21. bis zum 25. April 1918 in München auf – er steigt dabei im Nobelhotel „Vier Jahreszeiten“ ab, wo fünf Monate später auch die Uraufführung des Werkes stattfinden sollte. Nach Straßburg zurückgekehrt, schließt er die Arbeit zügig ab; die Komposition ist am 19., die Reinschrift am 25. Mai 1918 beendet, wie wir aus einem Brief an seinen Münchner „Propagandisten“ (und – was in der Mangelwirtschaft der Kriegs- und Nachkriegszeit wohl nicht weniger verdienstvoll war – Lebensmittellieferanten) Otto Deiglmayr erfahren:
Gestern ist die Violinsonate fertig geworden; sie hat mich die ganze Zeit seit meiner Rückkunft von München in Atem gehalten…
(26. Mai 1918)
Der Adressat ist zu diesem Zeitpunkt ganz mit seiner Lieblingsidee, dem „Hans-Pfitzner-Verein für deutsche Tonkunst“ ausgefüllt; am Nachmittag des 31. Mai findet im Münchner Künstlerhaus die Gründungsversammlung statt. Wie jedem rechten Eiferer fehlt Deiglmayr bei seinen Bemühungen das Augenmaß – auf das ihm nicht unbekannte Konkurrenzverhältnis zwischen „seinem“ Pfitzner und Richard Strauss reagierend, schreibt er letzterem einen ebenso undiplomatischen wie instinktlosen Brief, in welchem er Strauss auffordert, sich dem Verein anzuschließen, „um müßigem Gerede entgegenzutreten“. Als Freund Busching versucht, die peinliche Situation zu bereinigen, antwortet ihm Richard Strauss, der Deiglmayr nicht einmal einer Absage gewürdigt hat, mit einem Schreiben, das ein Deutlichkeit nun wirklich nichts zu wünschen übrigläßt:
„… Daß es mir nach reiflicher Überlegung nicht möglich ist, in die Mitte des Kreises »führender Musiker« einzutreten, ebensowenig als es wohl Franz Liszt oder gar dem Richard Wagner in den Sinn gekommen wäre, im Ehrenausschuß eines Cornelius- oder Draeseke- oder Bruckner-Vereins zu sitzen, bloß um »müßigem Gerede entgegenzutreten«…“
(Juni 1918)
Kein Wunder, daß der Meister, den die Vereinsgründung ehren sollte, wenig Freude an der ganzen Angelegenheit hat: „Mir macht die Tätigkeit des Hans-Pfitzner-Vereins bisher nur schlaflose Nächte.“, schreibt er dem unermüdlichen Deiglmayr am 9. September 1918 aus Straßburg. Da stand die Uraufführung des Opus 27 im Rahmen des ersten Vereinskonzertes – auch das eine Idee Deiglmayrs – schon unmittelbar bevor. Auch die Drucklegung des Werkes war schon lange geregelt – am 30. Juni hatte Pfitzner die letzten Korrekturbögen an Hinrichsen zurückgeschickt und gleichzeitig die Übersendung von Widmungsexemplaren an Felix Berber und Hermann Grevesmühl (Pfitzners Partner in den ersten Aufführungen der Sonate), seinen – als Kammermusiker besonders aktiven und kompetenten – Komponistenkollegen Hermann Zilcher und, last not least, an das ilustre Duo Artur Schnabel/Carl Flesch veranlaßt. Auch über das Honorar hatte man sich ohne Diskussionen geeinigt: Hinrichsen zahlte die von Pfitzner verlangten 10.000 Mark – der Autor des Palestrina hatte offensichtlich einen höheren Marktwert als der Komponist des Armen Heinrich.
Am 13. September reist Pfitzner über Frankfurt, wo er sich drei Tage aufhält, nach München. Er nimmt wieder im Hotel „Vier Jahreszeiten“ Quartier. Die rührige Münchner Pfitzner-Gemeinde umsorgt ihn. Zu diesen von Richard Strauss mit ironischen Gänsefüßchen versehenen „führenden Musikern“ gehören – neben Generalmusikdirektor Bruno Walter – so achtbare Erscheinungen wie der komponierende Altphilologe Otto Crusius (1857-1918), aber auch einige „richtige“ Komponisten, sicher nicht zufälligerweise alle Schüler von Iwan Knorr in Frankfurt oder Ludwig Thuille in München: etwa Bruno Walters Kollege als Generalintendant der Münchner Theater, Clemens von Franckenstein (1875-1942), der Schweizer Walter Courvoisier (1875-1931), Pfitzners Nachfolger als Leiter der Münchner Kaim-Konzerte (1907) und Thuilles Schwiegersohn, oder Pfitzners Landsleute Hermann Zilcher (1881-1948) und Walter Braunfels (1882-1954), beides Schüler von Pfitzners Schwiegervater James Kwast. Braunfels ist es auch, auf dessen Vorschlag am Vorabend der Uraufführung im Konzertsaal der Klavierhandlung Alfred Schmid Nachfolger vor 150 geladenen Vereinsmitgliedern eine inoffizielle Voraufführung stattfindet. Das von Pfitzner gewählte Programm besteht, wie bei der öffentlichen Uraufführung, aus einer Mozart-Sonate, der Schumannschen D-moll-Sonate und Pfitzners Opus 27. Die offizielle Premiere des Werkes findet am 25. September 1918 im Konzertsaal von Pfitzners Hotel „Vier Jahreszeiten“ statt – es ist die erste öffentliche Veranstaltung des „Hans-Pfitzner-Vereins für deutsche Tonkunst“. Wenn man bedenkt, daß sich in diesen Wochen der Kriegsausgang schon überdeutlich abzeichnet, und die Mehrzahl der Proponenten das „Deutsche“ des Vereinsnamens als eine trotzige Kampfansage an die von den Feindesmächten ausgehende „Bedrohung der deutschen Kultur“ verstanden haben mag (aktuelle Reizwörter: „Bolschewismus“, „Internationalismus“, „Futurismus“, „Jazz“ usw.), so kann man das Datum dieses Ereignisses auch als eine subtile Ironie des Schicksals deuten: Es war Schostakowitschs zwölfter und der Vorabend von Gershwins zwanzigstem Geburtstag…
Über die Uraufführung weiß der Pfitzner-Biograph Walter Abendroth (1935) zu berichten: „Das frisch erfundene, meisterlich-unproblematische Werk drang ohne Widerstand durch und wurde mit starkem Beifall belohnt.“ In der Voraufführung mußte der zweite Satz sogar wiederholt werden. Die Abwesenheit von Problemen und Widerständen zu konstatieren, dürfte allerdings doch etwas voreilig gewesen sein: Pfitzners Violinsonate gehört unter den bedeutenden Werken dieser Gattung sicher zu den am seltensten gespielten.
Das Opus 27 ist Pfitzners vorletzte Kammermusik mit Klavier; erst 1945 sollte er mit dem Sextett op.55 ein letztes Mal auf diese Werkkategorie zurückkommen, mit der er sein Schaffen begonnen hatte – aber da war er schon ein ganz anderer geworden. Die Sonate schließt somit einen sich über fast drei Jahrzehnte spannenden Entwicklungsbogen ab, der in seiner inneren Stringenz und seiner kompromißlosen Kraft ein faszinierendes Detail an der großen Kathedrale der Musik darstellt.
Das ganze Werk ist durchweht vom Nachhall des Palestrina; freilich nicht in der simplen Weise, daß man Motive und Bilder der Oper hier wieder finden würde – es ist vielmehr die Haltung eines Menschen, der Schweres und Wichtiges vollendet hat, die sich im Duktus dieser Musik niederschlägt. Palestrina/Pfitzner, der hier am Wort ist, steht noch ganz unter dem Eindruck der ihm auferlegten Aufgabe. Das weitausschwingende Hauptthema des ersten Satzes (Bewegt, mit Empfindung), das von einer entfernt an Bachsche Präludien erinnernden Begleittextur getragen wird, bricht immer wieder sinnend und träumend ab. Der rhapsodische Übergang zum kindlich-zuversichtlichen Seitenthema wird von energischeren Tönen geprägt – die dabei entfaltete Kraft hat aber nichts Kämpferisches, sondern vermittelt das Bild gesammelter und bedächtiger Schwere. Die kontemplative Vielschichtigkeit, die in diesem Expositionsverlauf angelegt erscheint, erforderte für die Weiterführung des Satzes ganz besondere Lösungen: Pfitzner findet sie, indem er der Exposition drei annähernd gleichlange, jeweils emblematisch mit dem Hauptthema beginnende Abschnitte folgen läßt, die sich zwar unschwer als Durchführung, Reprise und Coda benennen lassen, die aber dieses vertraute Schema doch auf sehr spezifische Weise variieren. Äuffällig ist vor allem, daß mit jedem neuen Abschnitt die Entfernung von der „Urgestalt“ des Hauptthemas zunimmt. Im Zentrum der Durchführung steht – anstelle des hier ausgesparten Seitenthemas – ein ausgedehnter Exkurs, der um das ferne As-Dur kreist und in dem die fließende Grundbewegung zu zeitloser Ruhe gerinnt. In der Coda sind dagegen die klassischen Durchführungscharakteristika – Abspaltung, Umreihung, dramatische Zuspitzung – am deutlichsten ausgeprägt: auch das eine durchaus nicht willkürliche, sondern in der Physiognomie des Satzes gut begründete Umkehrung des gewohnten dramaturgischen Ablaufes.
Der zweite Satz (Sehr breit und ausdrucksvoll, C-Dur) ist seinem Wesen nach ein feierlicher Hymnus; doch die breit und majestätisch dahinströmende Cantilene, die sich schon bald in das As-Dur der Durchführungsepisode aus dem ersten Satz wendet, verästelt und verirrt sich nach und nach: unversehens wird aus dem Dankgesang ein Klagelied. Der zweite Teil des Satzes ist eine erweiterte und sieghaft gesteigerte Wiederholung, in der das träumerische As-Dur durch ein strahlendes A-Dur ersetzt wird, so als wollte schon hier der Jubel des Schlußsatzes durchbrechen; aber ein kurzer Abgesang beschließt den Satz in der Stimmung und den Tonarten des Anfangs.
Das sich unmittelbar an den Mittelsatz anschließende Finale (Äußerst schwungvoll und feurig) hielt Wilhelm Furtwängler für den beeindruckendsten, aber auch am leichtesten zu mißdeutenden Versuch Pfitzners, „gemeinverständlich“ zu schreiben. In der Tat ist der freudige Überschwang, der den ganzen Satz durchpulst, nicht nur eine bei Pfitzner selten anzutreffende Stimmung – er scheint auch in nicht leicht erklärbarer Spannung zu den doch wesentlich gedämpfteren Tönen der ersten beiden Sätze zu stehen. Die einfachste – und ohne Zweifel unrichtigste – Deutung, der einige von Pfitzners kritischen Zeitgenossen zuneigten, wäre es, den Komponisten hier auf der Suche nach dem „zündenden Effekt“ zu wähnen. Ein Blick auf die Schlußtakte sollte genügen, um eine solche Hypothese zu widerlegen: Pfitzner führt hier die Geige in ihre tiefste Lage, ja er spart sie bei dem dunklen und wuchtigen Schlußakkord überhaupt aus – der Kunstverstand jedes blutigen Anfängers hätte ausgereicht, hier einen „wirkungsvollen“ Schluß mit strahlender E-Saite, untermalt von pianistischer E-Dur-Euphorie, herzusetzen. Offensichtlich ging es dem Komponisten nicht um ein luxuriöses Klanggewand im Sinne von Richard Strauss, auch wenn die Textur dieses Finales alles andere als schlicht ist. Vielleicht liegt der Schlüssel zum tieferen Verständnis dieses Satzes in dem als verzögerndes Element zwischen Reprisenende und Strettabeginn tretenden G-Dur-Choral: Wird hier etwa, mitten im Euryanthe-Jubel, der späte Schumann beschworen? Eine (weit unterhalb der Zitatebene liegende) generische Verwandtschaft zu jenem Choralthema, mit dem Schumann in seiner D-moll-Sonate (op.121) die Mittelsätze aneinander bindet, ist jedenfalls nicht zu leugnen. Und daß Pfitzner bei der Premiere gerade diese Sonate seinem eigenen Werk gegenüberstellte, könnte diese Vermutung stützen. Der alternde Meister schreibt über die Sternenfreundschaft zwischen Schumann und Wagner, den beiden Leitsternen seiner Jugend – warum sollte es uns nicht erlaubt sein, den Bogen von Pfitzners Opus 1 (in der Tonart des Schumannschen Opus 11 und mit einem Heine/Schumann-Zitat als Motto) bis zu seinem Opus 27 auch im Lichte einer solchen Sternenfreundschaft zu sehen?
Nach der Uraufführung kehrt Pfitzner wieder nach Straßburg zurück. Am 4. Oktober, dem Tag des deutschen Waffenstillstandsangebotes an Präsident Wilson, stellt er das neue Werk auch hier vor – sein Partner ist diesmal Hermann Grevesmühl, mit dem er die Sonate am darauffolgenden Tag noch in Colmar spielt. Es sollte sein vorletzter Konzertauftritt in Straßburg sein. Nach dem letzten noch planmäßig abgehaltenen Abonnementkonzert mit seinem Orchester, reist er zu Konzerten nach München. Dort aber wird der erste Jahrestag der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ auf ganz besondere Weise begangen: In der Nacht vom 7. zum 8. November 1918 besetzt Kurt Eisner mit seinen sozialistischen Parteifreunden den Landtag, am nächsten Tag wird König Ludwig III für abgesetzt erklärt und flieht aus München.
„Pfitzners seltsames Schicksal wollte es, daß er gerade am Abend des achten November ein Konzert hatte, bei dem die wenigen mutigen Besucher auf die immer neuen, in den Saal dringenden Schreckensnachrichten und fernen Schüsse hin sich allmählich davonmachten – er stand unter dem Eindruck, daß nur ihm eine solche revolutionäre Unanehmlichkeit passieren könne – und, erinnere ich mich recht, kam danach noch zu mir ins Haus, wo wir besorgt die Lage besprachen, ohne das geschichtliche Ereignis zu ahnen, von dem uns die Zeitung am nächsten Morgen berichtete.“
(Bruno Walter, Thema und Variationen)
Für die nächsten Wochen sitzt Pfitzner in den „Vier Jahreszeiten“ fest. Das schon mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 de facto wieder französisch gewordene Straßburg, wo er sein wichtigstes Schaffensjahrzehnt verbracht hat, sollte er nicht wiedersehen. Die Palestrina-Stadt hat ihn mühelos vergessen. Im großzügigen Musik- und Kongreßpalast der Europastadt heißen die Säle nach Erasmus von Rotterdam, dem Pfitzner-Bewunderer Albert Schweitzer, dem Lokalmatador und Johann-Strauß-Konkurrenten Emil Waldteufel und nach Charles Münch, dem Sohn von Pfitzners erstem Chorleiter. „Ich werde es immer schwer haben, aber ich werde auch immer das sein.“, hat Pfitzner einmal gesagt. Es scheint, als habe sich an der Stätte seiner wichtigsten Leistung diese Prophezeiung nur zum Teil erfüllt.
© Claus-Christian Schuster