Wolfgang Amadeus Mozart
* Salzburg, 27. Jänner 1756
† Wien, 5. Dezember 1791
Trio für Klavier, Violine und Violoncello, B-Dur, KV 502
komponiert: Wien (Domgasse 5), 18. November 1786
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Artaria, Wien, November 1788
Unter den Mozartschen Klaviertrios erfreut sich wahrscheinlich keines so konstanter Popularität wie dieses Werk. Offenbar erfüllt (und übertrifft) es in besonderer Weise alle Erwartungen, mit denen die meisten Hörer sich den Kompositionen Mozarts nähern. Und gerade dieser hier so besonders ausgeprägte paradigmatische Zug bietet uns einmal mehr Anlaß, über das Rätsel Mozart nachzudenken.
Eine leicht nachvollziehbare Konstante des Mozartbildes ist der Topos von der „Leichtigkeit“ und „Selbstverständlichkeit“ seines Schaffens. Nun begegnet uns in den Werken der Jahre ab etwa 1785 ein mit der landläufigen Vorstellung von Mozarts Kompositionsweise nicht leicht in Einklang zu bringendes Phänomen in auffälliger Häufung: Immer wieder findet Mozart die gesuchte Gestalt erst im zweiten Anlauf. Dem A-Dur-Streichquartett KV 464 (Jänner 1785) geht ein außergewöhnlich weit gediehenes Fragment (170 Takte) in der selben Tonart voran, zum zweiten und dritten Satz des A-Dur-Klavierkonzertes KV 488 (März 1786) gibt es – die Richtigkeit der jeweiligen Zuordnungen vorausgesetzt – gleich drei verworfene Ansätze (KV Anh. 58, 63, 64). In der Klavierkammermusik konzentriert sich die Erscheinung gerade auf die Entstehungszeit unseres Trios: So bricht etwa der ursprüngliche Finalsatz des Klavierquartetts KV 493 (Juni 1786) nach elf Takten ab, während den Kopfsätzen der beiden nachfolgenden Klaviertrios Satzanfänge in den jeweiligen Tonarten von neunzehn (KV 496, G-Dur, Juli 1786) und fünfundzwanzig (KV 502, B-Dur, November 1786) Takten vorangehen; und in diesem letzteren Werk, das hier zur Diskussion steht, stoßen wir im Mittelteil des langsamen Satzes gleich noch einmal auf einen ganz analogen Vorgang: Hier wird nämlich zweimal in Folge ein ausgedehnter (wenn auch nicht ausgeführter) Erstentwurf durch eine völlig anderslautende Endgestalt ersetzt.
All diesen Fällen gemeinsam ist, daß der erste „Einfall“ (mit Ausnahme der immer schon festgelegten Tonart) so gut wie keine oder doch nur sehr allgemeine Parallelen zu der schließlich gewählten Formulierung aufweist, es sich also – anders als man es von Beethoven her kennt – nicht darum handelt, die spezifische Gestaltung aus einer noch nebelhaften ersten Idee gleichsam zu destillieren. Gerade der verworfene Anfang des Allegros unseres B-Dur-Trios, der sich (trotz einer unüberhörbaren motivischen Parallele) besonders radikal von der endgültigen Fassung unterscheidet, ist alles andere als diffus oder nichtssagend, und bei der Betrachtung dieses Fragments könnte man recht leicht in Trauer über ein ungeborenes Werk verfallen.
Wie immer man dieses Phänomen, das in wechselnder Intensität übrigens in allen Schaffensphasen Mozarts anzutreffen ist, deuten mag, eines erweist es jedenfalls ganz offenkundig: Bei aller die menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Unerschöpflichkeit seines Genies war Mozart als Komponist durchaus kein Schlafwandler, und hinter jener Schnelligkeit und Leichtigkeit seiner Produktion, derer sich die volkstümliche Legende als unverzichtbares Hauptrequisit bemächtigt hat, wird immer wieder die wählende, formende und verwerfende Gedankenleistung einer unermüdlichen Gestaltungskraft sicht- und hörbar.
Dieser Feststellung liegen durchaus keine ikonoklastischen Motive zugrunde. Die Erscheinung Mozarts ist so unbestreitbar einzigartig, daß ihre Entrückung ins Mythische weder von der Musikwissenschaft noch vom Musical rückgängig gemacht werden kann. Die Antike versetzte ihre Helden und Sagengestalten unter die Sterne; und es liegt eine feine Ironie darinnen, daß gerade das Zeitalter der Aufklärung und der französischen Revolution mit Mozart ein Genie hervorbringen mußte, das vor den staunenden Augen der Nachwelt diesen mythischen Weg noch einmal beschritt.
Wie uns die antike Sage lehrt, ist aber dieser Weg nur für den begehbar, der das „Menschliche“ hinter sich läßt – Ovids Metamorphosen sind über weite Strecken nichts anderes als ein Lehrbuch dieser Erkenntnis. Und obwohl alles bedeutende geistige Schaffen unleugbar Elemente einer solchen Entäußerung und Überwindung in sich trägt, sind ihre äußeren Anzeichen wohl nirgends so deutlich ausgeprägt wie im Falle Mozarts. Dem Betrachter offenbart sich dieses Moment vor allem in der radikalen Divergenz zwischen dem Faktischen von Mozarts Leben und der schöpferischen Leistung des Komponisten. So groß ist der unerforschliche Freiraum zwischen diesen beiden Realitäten der Mozartschen Existenz, daß in ihm das Anekdotische ganz ungehemmt wuchern kann.
Auch an unserem B-Dur-Trio wird der ungewöhnliche Abstand zwischen Sein und Schaffen deutlich: Am 15. November 1786 war Mozarts drittes Kind im Alter von wenigen Wochen gestorben. Am Tag nach dem Begräbnis (das Kind wurde, so wie später auch sein Vater, auf dem Friedhof der Vorstadt St. Marx begraben), dem 18.November, beendet Mozart unser Werk, das vielleicht sonnigste seiner Klaviertrios: Das „Terzett für Klavier, Violine und Violoncell“, wie er es in seinem eigenhändigen Werkverzeichnis nennt, ist vom ersten Takt an in das milde Licht der uns aus dem B-Dur Klavierkonzert KV 450 wohlvertrauten, „empfindsam“ chromatisierten Terzgänge getaucht. Diese Stimmung gibt den Grundton für das ganze Werk. Nicht, daß es an wehmütigen Trübungen und erschütternden Ahnungen fehlte – welches Mozartsche Werk entbehrte dieser Züge ? – aber, mehr noch als sonst, bleiben diese Momente ohne Folgen, die Wolken zerfließen spurlos, und der Himmel behält seine reine, herbstlich-kräftige Farbe. Es bleibt ein gleichermaßen geheimnisvolles wie beglückendes Phänomen, daß die Tragik von Mozarts „wirklichem“ Leben, die sich mehr noch als im Tod des Kindes im unaufhaltsamen Niedergang seiner bürgerlichen Existenz manifestiert ( – in in jenen Wochen denkt Mozart ernstlich an eine Übersiedlung nach England, von der er sich eine Lösung seiner immer bedrohlicher werdenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten erhofft, und knapp ein halbes Jahr später, nach der Zerschlagung dieser Pläne, muß er – äußeres Zeichen seines sozialen Abstiegs – die repräsentative Stadtwohnung gegen ein bescheidenes Vorstadtquartier tauschen – ), daß diese „prosaische“ Tragik so unbegreiflich fern jener Welt lag, in die Mozart sich scheinbar mühelos erheben konnte und in der er mit jedem neuen Werk immer heimischer wurde.
Der erste Satz (Allegro) ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel jener „klassischen“ Klarheit und Ökonomie, die den Mozartschen Stil der Wiener Jahre prägen. Ganz ohne Übertreibung oder Spitzfindigkeit könnte man sagen, daß das gesamte Material des Satzes schon in den ersten beiden Takten enthalten ist. So phantasievoll wird das Hauptthema den wechselnden dramaturgischen Erfordernissen des Satzablaufes angepaßt und so raffiniert wird der Schwung des unscheinbaren Geigenmotivs des zweiten Taktes ausgenützt, daß man das „Fehlen“ eines kontrastierenden Seitenthemas erst bemerkt, wenn es – verspätet und damit gleichsam von der Last architektonischer Funktion befreit – am Anfang der Durchführung doch noch eintritt. (Dieser Gestaltungsform werden wir in Mozarts Werk ab hier häufiger begegnen, so etwa gleich einige Monate später im Kopfsatz der vierhändigen Klaviersonate C-Dur, KV 521.) Solche unerwarteten Geschenke machen sinnfällig, daß Ökonomie von Form und Material, wie sie die höchsten Kulturleistungen aller Zeiten auszeichnen, nichts mit jener spartanischen Strenge zu tun hat, die uns Dogmatiker und Diktatoren immer wieder als „klassisch“ anpreisen.
Besonders subtil und organisch ist die Anbindung des folgenden Larghettos (Es-Dur) an den Kopfsatz: Aus der Codagestalt des Kopfmotivs, die die Schlußtakte des ersten Satzes beherrscht, erwächst der charakteristische Auftakt zum Hauptthema des folgenden Satzes. Die schon oben erwähnte Nähe des Werkes zum B-Dur-Klavierkonzert KV 450 zeigt sich hier nicht weniger als im vorigen Satz; auch hier entsprechen Tonart, Charakter und formale Einzelzüge dem jeweiligen konzertanten Gegenstück. Der außergewöhnlich weiträumige Satz hat jedoch eine sehr eigenwillige Form, in der Elemente eines Rondos mit solchen eines Variationssatzes zu einer völlig homogenen Einheit verschmelzen, die – gleichsam auf Fernwirkung berechnet – den Eindruck einer dreiteiligen Liedform vermittelt. Wie schon eingangs erwähnt, zeigt und ein Blick ins Autograph (das seit dem Ende des 2. Weltkrieges in Krakau aufbewahrt wird), daß eine solche natürlich gewachsene Einheit auch bei Mozart durchaus das Resultat suchender Auswahl (und nicht nur „göttlicher Eingebung“) ist: Die zentrale As-Dur-Episode, die für die Physiognomie dieses Satzes so entscheidend ist, wird an einer Stelle eingefügt, an der Mozart zunächst einen ganz anderen (den Variationencharakter verstärkenden und wesentlich „gewöhnlicheren“) Verlauf konzipiert hatte.
Wie sehr solche Entscheidungen, die zunächst nur den konkreten Ablauf eines Satzes zu betreffen scheinen, die Gesamtarchitektur eines ganzen Werkes mitbestimmen können, erweist sich exemplarisch am abschließenden Rondosatz (Allegretto). Die Einfügung und besondere Hervorhebung der Mittelepisode hatte im Larghetto das formale Gewicht so sehr zugunsten des Rondotyps verschoben, daß sich eine Wiederholung dieses Typs (den etwa auch der Schlußsatz von KV 450 repräsentiert) nicht anbot. Daher verzichtet Mozart in diesem Rondo auf alles, was der Mittelepisode eigenständiges thematisches Relief oder harmonische Stabilität geben könnte und ersetzt sie durch einen Durchführungsteil (was dem Satz wiederum Züge eines Sonatensatzes verleiht); folgerichtig wird aber die (im Larghetto „unterentwickelte“) erste Episode hier besonders betont und liefert auch das motivische Material für den „Schlußstein“ des Werkes. Auf diese Weise schafft Mozart einen komplementären Bezug zwischen Larghetto und Allegretto, der durch die Identität der melodischen Anfangsgeste beider Sätze noch dezent hervorgehoben wird. Zusammen mit dem assoziativen Raffinement, das den ersten Satz an das Larghetto bindet, ist hiemit ein kaum mehr zu überbietendes Maß an organischer Kohärenz des Werkganzen erreicht, ohne daß die Individualität und inhaltliche Geschlossenheit der Einzelsätze in irgendeiner Weise beschnitten erschiene – eine Meisterleistung, wie wir sie bei Mozart nur allzugern als „einfach gegeben“ hinnehmen.
© Claus-Christian Schuster