Johannes Brahms
* Hamburg, 7. Mai 1833
† Wien, 3. April 1897
Trio Nr. 1, H-Dur, op. 8 (Fassung 1889)
Umarbeitung: Bad Ischl, Mai – August 1889, Wien, September – Dezember 1889
Uraufführung : Budapest, 10. Jänner 1890
Johannes Brahms, Klavier
Jenö Hubay (1858-1937), Violine
David Popper (1843-1913), Violoncello
Erstausgabe: Simrock, Berlin, Februar 1891
„Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen.“ Wie gerne würde man den Rat Goethes befolgen, doch wie selten bietet sich dem nichtschöpferischen Menschen dazu eine Gelegenheit! Was Brahms betrifft, gibt es jedenfalls keinen Punkt, wo wir der Erfüllung dieses Wunsches näher wären als bei seinem Klaviertrio op. 8. Es ist zwar nicht die eigentliche Geburt des Kunstwerkes, der wir hier beiwohnen können, sondern nur eine Metamorphose, aber die ist so umfassend und tiefgreifend, daß sie uns die faszinierendsten Einblicke in die Werkstatt des Komponisten bietet, die er uns je gestattet hat. Zwar ist es vorlaut, hier von „gestatten“ zu sprechen, denn daß Brahms uns diese Einblicke nur wider Willen gewährt, steht außer Frage. Wäre die Erstfassung dieses Werkes nicht seit November 1854 gedruckt vorgelegen, so wäre sie wohl dem unerbittlichen Meister zum Opfer gefallen und in eben jenem Ischler Sommer, der uns die „Neufassung“ bescherte, genauso der Traun überantwortet worden, wie viel „zerrissenes Notenpapier“ vor und nach ihr. So aber können wir in aller Ruhe die beiden Fassungen dieses Werkes vergleichen, die recht eigentlich zwei unabhängige, nur dem selben Keim entsprungene Werke darstellen. Wer sich die Zeit nimmt, diesen Vergleich anzustellen, dem wird sich ein ganzer Kosmos rätselhafter und wunderbarer Verwandlungen eröffnen.
Es ist hier selbstverständlich nicht der Platz, auf die Beziehungen zwischen den beiden Werken näher einzugehen. Ein kurzer Überblick über die Art der Umformung und Neuschöpfung mag genügen. Hier ist an erster Stelle die Eliminierung der beiden beziehungsreichen Liedzitate aus dem dritten und vierten Satz der Urfassung zu nennen: Schuberts „Das Meer erglänzte weit hinaus“ (Am Meer (Heine) / „Schwanengesang“, D 957 Nr. 12) und Beethovens „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ (An die ferne Geliebte (Jeitteles), op. 98 Nr. 6) waren in der ursprünglichen Komposition Kristallisationskerne von Momenten besonderer lyrischer Dichte. Die Tilgung dieser beiden Bezugspunkte hatte einschneidende Folgen für Dramaturgie und Aussage dieser beiden Sätze. Als womöglich noch radikaler erwiesen sich die Eingriffe bei der Neukomposition des Kopfsatzes. Hier behielt Brahms überhaupt nur den Hauptsatz bei, während Seitensatz und Durchführung zur Gänze ersetzt wurden. Die neukomponierten Teile traten hier an die Stelle von Passagen, die Klangwelt und Gestik der Musik von Janáček, Mahler und Pfitzner vorweggenommen hatten. Weitere Umformungen zielen auf Verknappung und Formteilverschmelzung. Alles in allem erscheint der Text in seinen äußeren Dimensionen um etwa zwei Fünftel gekürzt, wobei aber vom ursprünglichen Material der Ecksätze nur etwa ein Achtel, von dem des Adagios nur rund ein Drittel übernommen wurde. Lediglich das Scherzo beider Fassungen kann als inhaltlich ident bezeichnet werden, obwohl auch hier zahlreiche instrumentatorische Änderungen vorgenommen wurden (die man – ganz in Brahms´ Sinne durchaus „Verböserungen“ nennen darf), und der Satz auch eine völlig neue Coda erhielt. Die neukomponierten Teile weisen durchwegs eine kräftigere und dichtere Textur als die ausgeschiedenen auf, so daß die Neukomposition ganz allgemein gedrängter und „solider“ auftritt als die Erstfassung. Die Aussage beider Werke ist nicht nur verschieden, sie erscheint in manchen und nicht eben den unwesentlichsten Punkten geradezu als einander diametral entgegengesetzt. Instrumentation und Tektonik der zweiten Komposition bezeichnen einen der Höhepunkte der Brahmsschen Meisterschaft. Die Bändigung der Zentrifugalkräfte des Materials, die bei der ersten Komposition wohl gar nicht versucht worden war, kann als in höchster Vollendung geglückt bezeichnet werden. Daß diesem Sieg einige der anrührendsten Momente der Brahmsschen Musik geopfert werden mußten, zeigt ein Grunddilemma des menschlichen Schaffens schlechthin auf.
Brahms, den man vielleicht den kritischsten Komponisten der bisherigen Musikgeschichte nennen könnte, hat dieses Dilemma ganz bewußt erlebt und durchlitten. Ich glaube daher, daß die Äußerungen des Komponisten selbst uns dichter an den Kern der Fragen heranführen, die diese einzigartigen Schwesterwerke aufwerfen, als alle wertenden und beschreibenden Vergleiche. Beim Lesen dieser Zeugnisse wird man hinter der Selbstironie und dem Sarkasmus des Autors immer wieder auch jenen nicht lähmenden, sondern läuternden Selbstzweifel anklingen hören, der das Adelsprädikat des wahren Genies ist.
Schon wenige Tage, nachdem Breitkopf & Härtel die Erstfassung des Werkes zur Herausgabe angenommen hat, schreibt Brahms, von Gewissensbissen geplagt, aus Düsseldorf an Joseph Joachim (19. Juni 1854):
„…Das Trio hätte ich auch gern noch behalten, da ich jedenfalls später darin geändert hätte…“
Doch das Werk ist eben schon unwiderruflich „vom Stapel“ und kommt im November 1854 in seiner unverändert frischen und urwüchsigen Gestalt in den Handel. Am 22. November 1854 stellt Brahms selbst das Werk in einem Hauskonzert bei Joseph Joachim in Hannover vor. Clara notiert:
„Später spielte Johannes noch sein Trio, dem ich nichts wünschte als einen anderen ersten Satz, denn ich kann mich mit diesem nicht befreunden.“
Louis Köhler (1820-1886) meldet aus Königsberg in seiner im März 1855 in den „Signalen für die musikalische Welt“ erschienenen Rezension etwas mildere Bedenken ähnlicher Art an:
„ …Der erste Satz ist überhaupt reich von schöner Wirkung; doch störte uns die Fughette etwas. Vielleicht erfreut sie andere um so mehr…“
Die ersten öffentlichen Aufführungen des Trios finden kurz hintereinander in Danzig (13. Oktober 1855), New York (27. November 1855) und Breslau (18. Dezember 1855) statt. Einige Wochen später kann man in Kiel die Novität mit Brahms selbst, Carl Georg Peter Grädener und John Böie hören (20. Jänner 1856). Doch als kurz darauf, im März 1856, Joachim Brahms vorschlägt, das Werk mit ihm in einer Kammermusiksoiree in Hannover zu spielen, zeigt der junge Meister wenig Lust. Ist Brahms´ Absage (die er schlicht damit begründet, in Düsseldorf sei gerade „der schönste Frühling“) schon ein Anzeichen wachsender Distanz gegenüber seinem Kammermusikerstling? Jedenfalls ist uns aus den folgenden Jahren keine einzige Aufführung des H-Dur-Trios durch Brahms bekannt geworden.
1869 kehrt der Pianist Anton Door (1833-1916) aus Moskau in seine Heimatstadt Wien zurück. Door hat sich in Rußland, wo er zum engeren Freundeskreis von Nikolaj Rubinštejn und Čajkovskij gehört hat, einen Namen als hervorragender Kammermusiker gemacht. Ihm bleibt es vorbehalten, dem ersten (und bis dahin einzigen) Brahmsschen Klaviertrio zu seiner Wiener Erstaufführung zu verhelfen – man schreibt inzwischen das Jahr 1871, und seit der Komposition des Werkes sind nicht weniger als siebzehn Jahre vergangen. Doch auf ausdrücklichen Wunsch des Komponisten bekommen die Wiener nicht die gedruckte Fassung, sondern eine um eben jene von Clara Schumann und Louis Köhler beanstandeten Durchführungsteile des ersten Satzes gekürzte Version zu hören.
Wieder vergehen siebzehn Jahre, da bietet sich Brahms schließlich ein Anlaß zur Neukomposition des Werkes – denn nicht anders kann man die Umarbeitung nennen. 1888 hat Fritz Simrock dem Verlag Breitkopf & Härtel alle dort erschienenen Brahms-Werke abgekauft und will sie nun neu herausgeben. Diese Gelegenheit zu einer gründlichen Ausmerzung aller erkannten Schwächen seines Jugendwerkes will der Meister sich nicht entgehen lassen. Er durchforstet das Werk mit unbestechlichem Auge und findet „viel Häßliches“ und „viele unnütze Schwierigkeiten drin“. Daß er zunächst wohl wirklich nur an eine Korrektur und nicht an eine so tiefgreifende Neukomposition denkt, erscheint aufgrund der Bleistifteintragungen im Handexemplar der Erstausgabe wahrscheinlich. Doch während seines Ischler Sommeraufenthaltes 1889 arbeitet er sich immer tiefer in das Werk hinein, und kurz vor seiner Abreise nach Wien kann er Clara Schumann nach Baden-Baden berichten:
„…Mit welcher Kinderei ich schöne Sommertage verbrachte, rätst Du nicht. Ich habe mein H-Dur-Trio noch einmal geschrieben und kann es Op. 108 statt Op. 8 nennen. So wüst wird es nicht mehr sein wie früher – ob aber besser?
Wenn sich´s träfe, daß dort kleine Joachims und Hausmanns tummelten, könnten wir’s immer einmal versuchen…“
(3. September 1889)
Schon zwei Tage zuvor hat er bei seinem Verleger Fritz Simrock angefragt:
„Auch muß ich z.B. jetzt doch Sie fragen wegen des Trios op. 8, ob Sie davon eine neue Ausgabe machen und einige neue Platten daran wenden mögen. Es wird kürzer, hoffentlich besser und jedenfalls teurer – in welcher frohen Aussicht bestens grüßt Ihr
J.B.“
Doch Brahms hat es beileibe nicht eilig mit der Drucklegung seiner Neukomposition. Nach Wien zurückgekehrt feilt er weiter an dem Werk, bis er es schließlich am 10. Jänner 1890 in Budapest der Öffentlichkeit präsentiert.
Am 22. Februar 1890 kann auch das Wiener Publikum das neue Werk kennenlernen: Brahms stellte es in einer Soirée des Rosé-Quartetts im Bösendorfer-Saal mit Arnold Rosé, Violine, und Reinhard Hummer, Violoncello, vor. Am nächsten Tag schreibt er an Clara:
„…Ich hatte das Stück schon zu den Toten geworfen und wollte es nicht spielen. Daß es mir selbst nicht genügen und gefallen wollte heißt wenig, aber wenn darauf die Rede kam, war niemand neugierig darauf, und jeder, auch Joachim, Wüllner z.B., fing dann davon an, wie er erst neulich mit so vielem Vergnügen das alte Stück gespielt habe, und fand es schwärmerisch, romantisch und was alles.
Nun ist mir lieb, daß ich´s doch gespielt habe, es war ein sehr vergnügter Tag.“
Und Brahms hat offensichtlich Lust bekommen, sich noch mehrere solche vergnügte Tage zu verschaffen, denn am selben Tag schreibt er an seinen Freund Franz Wüllner, den städtischen Kapellmeister und Konservatoriumsdirektor in Köln:
„…Gestern erst habe ich denn das verneuerte Trio hier gespielt und bin wirklich in Versuchung es Dich hören zu lassen…“
Diese Anregung wird dankbar aufgegriffen, und Brahms kann auf diese Weise seinen Freunden aus Düsseldorfer Tagen sein erwachsen gewordenes Jugendwerk vorführen. Zu dem auf den 13. März 1890 in Köln angesetzten Konzert (ein von Wüllner dirigiertes Chorkonzert, in dessen Mitte Brahms sein „verneuertes“ Trio mit Gustav Holländer, Violine, und Lájos Hegyesi, Violoncello, spielen wird) lädt er seinen Jugendfreund Julius Otto Grimm („Isegrimm“) und dessen Frau Philippine („Pine Gur“) ein:
„…es wäre ganz ausnahmsweise schön und lieblich, wenn Du und gar Pine Gur dabei wären. Du hörst allerlei würdige Chormusik, einen Haufen Motetten von mir und ein Stück, das Dich notwendig interessieren muß.
Kennst Du etwa noch ein H-Dur-Trio aus unserer Jugendzeit, und wärst Du nicht begierig, es jetzt zu hören, da ich ihm – (keine Perrücke aufgesetzt – !) aber die Haare ein wenig gekämmt und geordnet[?]“
(Anfang März 1890)
Gleich nach dem Kölner Konzert setzt Brahms seine Reise in die Vergangenheit fort und besucht Clara in Frankfurt am Main, wo er am 23. März auch noch einmal das Trio aufführt. Damit ist die Reihe der Probekonzerte, in denen sich das neue Werk bewähren muß, zu Ende.
Aus Bad Ischl kann Brahms am Ende seines Sommeraufenthaltes 1890 an Elisabeth und Heinrich von Herzogenberg die nun ausgereifte Neukomposition zusammen mit dem ganz neuen zweiten Streichquintett (G-Dur, op. 111) schicken. Kurz davor hat er an Heinrich von Herzogenberg noch geschrieben:
„…mit Buchstaben geht mir´s noch schlimmer als mit den Noten – diese gefallen mir doch erst morgen nicht, wenn ich sie heute geschrieben…“
(14. Juni 1890)
Elisabeths Antwortschreiben enthält die wohl herzlichste und gültigste Anmerkung zu dem „Problem“ des doppelten Op. 8, das eben viel mehr ein Geschenk als ein Problem ist – soviele Fragen es auch aufwirft:
„Bei dem alt-neuen Trio ging mir´s eigen. Im Stillen protestierte etwas in mir gegen die Umarbeitung – es war mir, als hätten Sie kein Recht dazu, in die Jugendzüge, die lieblichen, wenn auch ab und zu verschwommenen, mit Ihrer Meisterhand jetzt hineinzukomponieren, und ich dachte, das kann nimmermehr werden, weil niemand derselbe ist nach so langer Zeit – und ob man nicht wehmütig singen würde: Es war ein Duft, es war ein Glanz. –
Absichtlich sah ich das „alte“ Trio deshalb nicht vorher wieder an, da vieles mir davon entfallen war, und ich wußte nicht, wo der neue Brahms angesetzt hatte, da ich Kritiken mir nie merke! Im ersten Satz erkannte ich sofort die Stelle, wo Sie eingegriffen, aber ich wurde trotz aller Bedenken fortgerissen und spielte hingerissen weiter! – Es ist schön, wie es ist, und das Rechten mit Ihnen überlasse ich gern den Philologen unter den Musikern, die das Datum an dem Ding mehr interessiert als das Ding… Das Adagio ist durch die Zusammenziehung wunderbar rund geworden, und wie von neuem bezaubert das herrlich feierliche Schreiten des Hauptmotivs. Im Scherzo, wo ja scheinbar die wenigsten Veränderungen vorgenommen wurden, bewundern wir die riesig klare Akzentuierung der früheren Intentionen. Genug, wer wollte sich nicht freuen, das Werk mit dem Jünglingsgesicht und mit dem Meisterantlitz –
„Nun kann man´s zweimal lesen,
Wie gut ist das gewesen!“(9. Oktober 1890)
Am 13. Dezember 1890 endlich schickt Brahms die beiden neuen Opera (8 und 111) zur Drucklegung nach Berlin. Wenige Tage später heißt es in einem Brief an Fritz Simrock:
„…Ich dachte alles ganz gut korrigiert zu haben!? Und nun stimmt’s nicht!? Und Sie schwindeln einen Takt mehr heraus, als ich fürs Geld geben will!? Ja, Geld – was habe ich denn für das erste Quintett gekriegt? Und wie rechnet man das Kastrieren eines Trios?“
(22. Dezember 1890)
Eine Woche später kommt hier dann auch das weitere Schicksal der Erstfassung zur Sprache:
„…Ich meine, es brauchte bei op. 8 nichts weiter zu stehen als: Neue Ausgabe. In Ankündigungen können Sie ja beisetzen: vollständig umgearbeitete und veränderte und was Sie wollen. Was mit der alten Ausgabe geschehen soll: es ist wirklich unnütz, darüber zu reden und zu beschließen – nur meine ich, man kann sie nicht wohl jetzt mit der neuen Ausgabe zugleich anzeigen. Wird sie verlangt, so schicken Sie sie, und scheint es Ihnen eines Tags nötig oder wünschenswert, so drucken Sie sie neu (lassen ja auch möglicherweise die neue Ausgabe eingehen!) Ein Vorsatz aber ist überflüssig. Ich denke selbstverständlich dabei nicht an das Honorar und weiß wirklich nicht, was ich fürs Kastrieren verlangen soll….
Für das verböserte Trio hätte ich nichts verlangt und erwartet, aber Sie schreiben ganz klar, kurz und grob, daß Sie es nicht umsonst nehmen! So kaufe ich mir noch Kuchen zu Ihrem Champagner – wird alles den armen Leibeigenen abgezapft!…“
(An Fritz Simrock, 29. Dezember 1890)
Die fast kaltblütig zu nennende Objektivität, mit der Brahms sein Jugendwerk noch einmal auf die Welt gebracht hatte, verstellte ihm nicht die Sicht auf das Lebensrecht des Erstgeborenen. Daß uns auf diese Weise Jünglingsgesicht und Meisterantlitz erhalten blieben, zählt zu den schönsten Geschenken der Musikgeschichte.
© Claus-Christian Schuster